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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
eigenartige, immer sehr individuell behandelte Werke. Die dritte
Stufe bedeutet den bedingungs- und restlosen Anschluß an den
vollreifen, klassisch gewordenen Stil der Franzosen.

Im Elsaß beginnt die erste Stufe, mit dem übrigen Deutsch-
land verglichen, sehr früh, schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts.
Dann aber hält sie sich, ohne viel Fortschritte zu machen, lange
Zeit auf der erreichten Linie. Ihre Merkmale sind erstens die leicht
zugespitzten Bogenlinien im Nebeneinander mit halbkreisförmigen,
zweitens die Verstärkung der Kreuzgewölbe durch Diagonal-
rippen. Wenn in Frankreich hieraus in rapider Entwicklung eine
durchgreifende Reform des ganzen konstruktiven Gerüstes ab-
geleitet wurde, so geschah im Elsaß davon nichts. Es ist mir
auch zweifelhaft, ob diese Formen wirklich aus der französischen
Schule erworben sind. Für den Spitzbogen waren nähere Vor-
bilder in Burgund zu finden, für die Kreuzrippen in der Lombardei.
Da nun das Elsaß mit diesen beiden Schulen nachweislich in
Verkehr gestanden hat, mit der französischen aber, nach sonstigen
Merkmalen zu urteilen, nicht, so halte ich die elsässischen Spitz-
bögen und Kreuzrippen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts nur
für Analogien zur französischen Gotik, nicht für Wirkungen der-
selben. Solche liegen erst auf der zweiten Stufe vor. Doch ist
gerade diese im Elsaß nur durch wenige Bauten vertreten; weit-
aus der schönste die leider nicht genau zu datierende Kirche
St. Arbogast zu Rufach. Hält man daneben die Chronologie der
ersten gotisierenden Bauten in anderen deutschen Landschaften,
erinnert man an Maulbronn, Magdeburg, Bamberg, Limburg,
Trier, Marburg, so ist nur zu sagen: in dieser Epoche war die
Stellung des Elsaß zur gotischen Reform, trotz früher Bekannt-
schaft mit deren Grundgedanken, eine ausgesprochen retardierende.
Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren zahlreiche andere deutsche
Orte, viel weiter entfernt von der Westgrenze, mit der franzö-
sischen gotischen Kunst schon viel vertrauter geworden. Ich
glaubte mich in dem nicht zu irren, was mir die Baudenkmäler
sagen: das Elsaß blieb zurück nicht aus mangelndem Wissen,
sondern aus mangelndem Wollen; es fühlte sich gegen die fran-
zösische Kunst innerlich fremd. Ich empfehle zur Gegenprobe

Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
eigenartige, immer sehr individuell behandelte Werke. Die dritte
Stufe bedeutet den bedingungs- und restlosen Anschluß an den
vollreifen, klassisch gewordenen Stil der Franzosen.

Im Elsaß beginnt die erste Stufe, mit dem übrigen Deutsch-
land verglichen, sehr früh, schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts.
Dann aber hält sie sich, ohne viel Fortschritte zu machen, lange
Zeit auf der erreichten Linie. Ihre Merkmale sind erstens die leicht
zugespitzten Bogenlinien im Nebeneinander mit halbkreisförmigen,
zweitens die Verstärkung der Kreuzgewölbe durch Diagonal-
rippen. Wenn in Frankreich hieraus in rapider Entwicklung eine
durchgreifende Reform des ganzen konstruktiven Gerüstes ab-
geleitet wurde, so geschah im Elsaß davon nichts. Es ist mir
auch zweifelhaft, ob diese Formen wirklich aus der französischen
Schule erworben sind. Für den Spitzbogen waren nähere Vor-
bilder in Burgund zu finden, für die Kreuzrippen in der Lombardei.
Da nun das Elsaß mit diesen beiden Schulen nachweislich in
Verkehr gestanden hat, mit der französischen aber, nach sonstigen
Merkmalen zu urteilen, nicht, so halte ich die elsässischen Spitz-
bögen und Kreuzrippen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts nur
für Analogien zur französischen Gotik, nicht für Wirkungen der-
selben. Solche liegen erst auf der zweiten Stufe vor. Doch ist
gerade diese im Elsaß nur durch wenige Bauten vertreten; weit-
aus der schönste die leider nicht genau zu datierende Kirche
St. Arbogast zu Rufach. Hält man daneben die Chronologie der
ersten gotisierenden Bauten in anderen deutschen Landschaften,
erinnert man an Maulbronn, Magdeburg, Bamberg, Limburg,
Trier, Marburg, so ist nur zu sagen: in dieser Epoche war die
Stellung des Elsaß zur gotischen Reform, trotz früher Bekannt-
schaft mit deren Grundgedanken, eine ausgesprochen retardierende.
Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren zahlreiche andere deutsche
Orte, viel weiter entfernt von der Westgrenze, mit der franzö-
sischen gotischen Kunst schon viel vertrauter geworden. Ich
glaubte mich in dem nicht zu irren, was mir die Baudenkmäler
sagen: das Elsaß blieb zurück nicht aus mangelndem Wissen,
sondern aus mangelndem Wollen; es fühlte sich gegen die fran-
zösische Kunst innerlich fremd. Ich empfehle zur Gegenprobe

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[82/0096] Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß eigenartige, immer sehr individuell behandelte Werke. Die dritte Stufe bedeutet den bedingungs- und restlosen Anschluß an den vollreifen, klassisch gewordenen Stil der Franzosen. Im Elsaß beginnt die erste Stufe, mit dem übrigen Deutsch- land verglichen, sehr früh, schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Dann aber hält sie sich, ohne viel Fortschritte zu machen, lange Zeit auf der erreichten Linie. Ihre Merkmale sind erstens die leicht zugespitzten Bogenlinien im Nebeneinander mit halbkreisförmigen, zweitens die Verstärkung der Kreuzgewölbe durch Diagonal- rippen. Wenn in Frankreich hieraus in rapider Entwicklung eine durchgreifende Reform des ganzen konstruktiven Gerüstes ab- geleitet wurde, so geschah im Elsaß davon nichts. Es ist mir auch zweifelhaft, ob diese Formen wirklich aus der französischen Schule erworben sind. Für den Spitzbogen waren nähere Vor- bilder in Burgund zu finden, für die Kreuzrippen in der Lombardei. Da nun das Elsaß mit diesen beiden Schulen nachweislich in Verkehr gestanden hat, mit der französischen aber, nach sonstigen Merkmalen zu urteilen, nicht, so halte ich die elsässischen Spitz- bögen und Kreuzrippen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts nur für Analogien zur französischen Gotik, nicht für Wirkungen der- selben. Solche liegen erst auf der zweiten Stufe vor. Doch ist gerade diese im Elsaß nur durch wenige Bauten vertreten; weit- aus der schönste die leider nicht genau zu datierende Kirche St. Arbogast zu Rufach. Hält man daneben die Chronologie der ersten gotisierenden Bauten in anderen deutschen Landschaften, erinnert man an Maulbronn, Magdeburg, Bamberg, Limburg, Trier, Marburg, so ist nur zu sagen: in dieser Epoche war die Stellung des Elsaß zur gotischen Reform, trotz früher Bekannt- schaft mit deren Grundgedanken, eine ausgesprochen retardierende. Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren zahlreiche andere deutsche Orte, viel weiter entfernt von der Westgrenze, mit der franzö- sischen gotischen Kunst schon viel vertrauter geworden. Ich glaubte mich in dem nicht zu irren, was mir die Baudenkmäler sagen: das Elsaß blieb zurück nicht aus mangelndem Wissen, sondern aus mangelndem Wollen; es fühlte sich gegen die fran- zösische Kunst innerlich fremd. Ich empfehle zur Gegenprobe

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/96>, abgerufen am 23.11.2024.