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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Kunstleben Innerdeutschlands eingetreten war, wurde ein dauern-
des Verhältnis.

Als Einführung ganz neuer Werte hat der plastische
Schmuck des Musters fast noch mehr zu bedeuten als seine Archi-
tektur. Dem Historiker sagt er aber nichts anderes als diese,
und so darf ich über ihn hinweggehen.

Wie entwickelten sich nun die Dinge weiter? Folgte auf den
Münsterbau eine neue Blütezeit elsässischer Kunst? Das Gegenteil
trat ein. Die Baukunst des 14. Jahrhunderts kam in schnellem
Sinken auf ein hohles Epigonentum, das selbst dazu unfähig war,
den Abstand zwischen sich und der großen Zeit zu bemerken.
Von seiner Impotenz sind leider auch an unserer Münsterfassade
einige unvertilgbare Spuren haften geblieben. Die üblen all-
gemeinen Zustände unseres Landes in jener Zeit mögen vieles
erklären; der tiefste Grund dafür, daß der Münsterbau, eine Quelle
reicher Spenden an die deutsche Kunst im ganzen, für die be-
sondere elsässische, wie man bekennen muß, sehr wenig fruchtbar
gewesen ist, ist doch der, daß ein geschenktes Gut niemals den
Wert eines selbsterworbenen hat. Schließlich war es nur ein Zu-
fall, daß dieses hohe Werk gerade in Straßburg seinen Platz fand.
Es ist nicht aus der elsässischen Entwicklung motiviert. Ein genialer
Künstler war erschienen, hatte einem von ihm mitgebrachten Voll-
kommenheitsideal nachgestrebt; keine Volksüberlieferung trug ihn.

In Besitz einer breit gegründeten volkstümlichen
Kunst kam das Elsaß erst im 15. Jahrhundert wieder, zugleich
mit einer vollständigen Umdrehung der Frontstellung des 13.
Frankreich war ganz aus dem Gesichtskreis verschwunden, jeder
Zustrom frischer Kräfte aus den deutschen Nachbarländern wurde
willkommen geheißen. In der Baukunst finden wir nicht nur
sporadisch, sondern an allen wichtigen Plätzen Männer vom
Mittel- und Niederrhein, vor allem aus Schwaben. Die Vollendung
der Münster von Straßburg und Thann sind die Hauptleistungen
der Spätgotik. In Straßburg wurde in einem Momente schwieriger
Entscheidung eine Kommission berufen, in der wir einen Frank-
furter, einen Freiburger, einen Württemberger und neben ihnen
nur einen einzigen Elsässer sitzen sehen; Ulrich Ensinger von

Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Kunstleben Innerdeutschlands eingetreten war, wurde ein dauern-
des Verhältnis.

Als Einführung ganz neuer Werte hat der plastische
Schmuck des Musters fast noch mehr zu bedeuten als seine Archi-
tektur. Dem Historiker sagt er aber nichts anderes als diese,
und so darf ich über ihn hinweggehen.

Wie entwickelten sich nun die Dinge weiter? Folgte auf den
Münsterbau eine neue Blütezeit elsässischer Kunst? Das Gegenteil
trat ein. Die Baukunst des 14. Jahrhunderts kam in schnellem
Sinken auf ein hohles Epigonentum, das selbst dazu unfähig war,
den Abstand zwischen sich und der großen Zeit zu bemerken.
Von seiner Impotenz sind leider auch an unserer Münsterfassade
einige unvertilgbare Spuren haften geblieben. Die üblen all-
gemeinen Zustände unseres Landes in jener Zeit mögen vieles
erklären; der tiefste Grund dafür, daß der Münsterbau, eine Quelle
reicher Spenden an die deutsche Kunst im ganzen, für die be-
sondere elsässische, wie man bekennen muß, sehr wenig fruchtbar
gewesen ist, ist doch der, daß ein geschenktes Gut niemals den
Wert eines selbsterworbenen hat. Schließlich war es nur ein Zu-
fall, daß dieses hohe Werk gerade in Straßburg seinen Platz fand.
Es ist nicht aus der elsässischen Entwicklung motiviert. Ein genialer
Künstler war erschienen, hatte einem von ihm mitgebrachten Voll-
kommenheitsideal nachgestrebt; keine Volksüberlieferung trug ihn.

In Besitz einer breit gegründeten volkstümlichen
Kunst kam das Elsaß erst im 15. Jahrhundert wieder, zugleich
mit einer vollständigen Umdrehung der Frontstellung des 13.
Frankreich war ganz aus dem Gesichtskreis verschwunden, jeder
Zustrom frischer Kräfte aus den deutschen Nachbarländern wurde
willkommen geheißen. In der Baukunst finden wir nicht nur
sporadisch, sondern an allen wichtigen Plätzen Männer vom
Mittel- und Niederrhein, vor allem aus Schwaben. Die Vollendung
der Münster von Straßburg und Thann sind die Hauptleistungen
der Spätgotik. In Straßburg wurde in einem Momente schwieriger
Entscheidung eine Kommission berufen, in der wir einen Frank-
furter, einen Freiburger, einen Württemberger und neben ihnen
nur einen einzigen Elsässer sitzen sehen; Ulrich Ensinger von

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[84/0098] Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß Kunstleben Innerdeutschlands eingetreten war, wurde ein dauern- des Verhältnis. Als Einführung ganz neuer Werte hat der plastische Schmuck des Musters fast noch mehr zu bedeuten als seine Archi- tektur. Dem Historiker sagt er aber nichts anderes als diese, und so darf ich über ihn hinweggehen. Wie entwickelten sich nun die Dinge weiter? Folgte auf den Münsterbau eine neue Blütezeit elsässischer Kunst? Das Gegenteil trat ein. Die Baukunst des 14. Jahrhunderts kam in schnellem Sinken auf ein hohles Epigonentum, das selbst dazu unfähig war, den Abstand zwischen sich und der großen Zeit zu bemerken. Von seiner Impotenz sind leider auch an unserer Münsterfassade einige unvertilgbare Spuren haften geblieben. Die üblen all- gemeinen Zustände unseres Landes in jener Zeit mögen vieles erklären; der tiefste Grund dafür, daß der Münsterbau, eine Quelle reicher Spenden an die deutsche Kunst im ganzen, für die be- sondere elsässische, wie man bekennen muß, sehr wenig fruchtbar gewesen ist, ist doch der, daß ein geschenktes Gut niemals den Wert eines selbsterworbenen hat. Schließlich war es nur ein Zu- fall, daß dieses hohe Werk gerade in Straßburg seinen Platz fand. Es ist nicht aus der elsässischen Entwicklung motiviert. Ein genialer Künstler war erschienen, hatte einem von ihm mitgebrachten Voll- kommenheitsideal nachgestrebt; keine Volksüberlieferung trug ihn. In Besitz einer breit gegründeten volkstümlichen Kunst kam das Elsaß erst im 15. Jahrhundert wieder, zugleich mit einer vollständigen Umdrehung der Frontstellung des 13. Frankreich war ganz aus dem Gesichtskreis verschwunden, jeder Zustrom frischer Kräfte aus den deutschen Nachbarländern wurde willkommen geheißen. In der Baukunst finden wir nicht nur sporadisch, sondern an allen wichtigen Plätzen Männer vom Mittel- und Niederrhein, vor allem aus Schwaben. Die Vollendung der Münster von Straßburg und Thann sind die Hauptleistungen der Spätgotik. In Straßburg wurde in einem Momente schwieriger Entscheidung eine Kommission berufen, in der wir einen Frank- furter, einen Freiburger, einen Württemberger und neben ihnen nur einen einzigen Elsässer sitzen sehen; Ulrich Ensinger von

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/98>, abgerufen am 23.11.2024.