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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Sittlichkeit ein System der Kultur.
wenn ein Mensch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl
der ihn Verurtheilenden ganz so handeln würde, als er selber
gehandelt hat, falls sie nur dem Urtheil der Welt sich dabei zu
entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter
dem seine Seele steht, wie das Raubthier unter dem Bann der
Augen eines muthigen Menschen, wie der Verbrecher unter dem
Bann der hundert Augen des Gesetzes. Will er dieser Totalmasse
der öffentlichen sittlichen Meinung sich wirklich entziehen, so erträgt
er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zusammensteht
mit Anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Mei-
nung, welche ihn trägt. Diese regulirende Gewalt des sittlichen
Gesammtgewissens bewirkt andrerseits im Beginn der persönlichen
Entwicklung, sowie für die nicht sittlich selbständig Fühlenden, ja
im Einzelnen schließlich auch für die sittlich Höchststehenden die
Uebertragung des Gesammtergebnisses der sittlichen Kultur, welches
Niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz selbständig
in seinen mannigfachen Verzweigungen in sich hervorzubringen
vermöchte.

So bildet sich in der Gesellschaft ein selbständiges System
der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den
äußeren Zwang angewiesen ist, regulirt es mit einer Art von
innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat sonach in
den Geisteswissenschaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff
von Imperativen, der das Leben des Einzelnen regelt, sondern ihr
Gegenstand ist eines der großen Systeme, welche im Leben der
Gesellschaft ihre Funktion haben.

An den Zusammenhang dieser Systeme, welche in direkter Weise
Zwecke verwirklichen, die in den Bestandtheilen der menschlichen
Natur angelegt sind, schließen sich die Systeme von Mitteln, welche
in dem Dienste der direkten Zwecke des gesellschaftlichen Lebens stehen.
Ein solches System von Mitteln ist die Erziehung. Aus den Be-
dürfnissen der Gesellschaft entstanden die einzelnen Schulkörper,
als Leistung von Privatpersonen sowie von Verbänden, aus un-
scheinbaren Anfängen: differenzirten sich, traten in Verbindung
untereinander, und nur allmälig, nur theilweise wurde das

Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.
wenn ein Menſch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl
der ihn Verurtheilenden ganz ſo handeln würde, als er ſelber
gehandelt hat, falls ſie nur dem Urtheil der Welt ſich dabei zu
entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter
dem ſeine Seele ſteht, wie das Raubthier unter dem Bann der
Augen eines muthigen Menſchen, wie der Verbrecher unter dem
Bann der hundert Augen des Geſetzes. Will er dieſer Totalmaſſe
der öffentlichen ſittlichen Meinung ſich wirklich entziehen, ſo erträgt
er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zuſammenſteht
mit Anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Mei-
nung, welche ihn trägt. Dieſe regulirende Gewalt des ſittlichen
Geſammtgewiſſens bewirkt andrerſeits im Beginn der perſönlichen
Entwicklung, ſowie für die nicht ſittlich ſelbſtändig Fühlenden, ja
im Einzelnen ſchließlich auch für die ſittlich Höchſtſtehenden die
Uebertragung des Geſammtergebniſſes der ſittlichen Kultur, welches
Niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz ſelbſtändig
in ſeinen mannigfachen Verzweigungen in ſich hervorzubringen
vermöchte.

So bildet ſich in der Geſellſchaft ein ſelbſtändiges Syſtem
der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den
äußeren Zwang angewieſen iſt, regulirt es mit einer Art von
innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat ſonach in
den Geiſteswiſſenſchaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff
von Imperativen, der das Leben des Einzelnen regelt, ſondern ihr
Gegenſtand iſt eines der großen Syſteme, welche im Leben der
Geſellſchaft ihre Funktion haben.

An den Zuſammenhang dieſer Syſteme, welche in direkter Weiſe
Zwecke verwirklichen, die in den Beſtandtheilen der menſchlichen
Natur angelegt ſind, ſchließen ſich die Syſteme von Mitteln, welche
in dem Dienſte der direkten Zwecke des geſellſchaftlichen Lebens ſtehen.
Ein ſolches Syſtem von Mitteln iſt die Erziehung. Aus den Be-
dürfniſſen der Geſellſchaft entſtanden die einzelnen Schulkörper,
als Leiſtung von Privatperſonen ſowie von Verbänden, aus un-
ſcheinbaren Anfängen: differenzirten ſich, traten in Verbindung
untereinander, und nur allmälig, nur theilweiſe wurde das

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[79/0102] Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur. wenn ein Menſch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl der ihn Verurtheilenden ganz ſo handeln würde, als er ſelber gehandelt hat, falls ſie nur dem Urtheil der Welt ſich dabei zu entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter dem ſeine Seele ſteht, wie das Raubthier unter dem Bann der Augen eines muthigen Menſchen, wie der Verbrecher unter dem Bann der hundert Augen des Geſetzes. Will er dieſer Totalmaſſe der öffentlichen ſittlichen Meinung ſich wirklich entziehen, ſo erträgt er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zuſammenſteht mit Anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Mei- nung, welche ihn trägt. Dieſe regulirende Gewalt des ſittlichen Geſammtgewiſſens bewirkt andrerſeits im Beginn der perſönlichen Entwicklung, ſowie für die nicht ſittlich ſelbſtändig Fühlenden, ja im Einzelnen ſchließlich auch für die ſittlich Höchſtſtehenden die Uebertragung des Geſammtergebniſſes der ſittlichen Kultur, welches Niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz ſelbſtändig in ſeinen mannigfachen Verzweigungen in ſich hervorzubringen vermöchte. So bildet ſich in der Geſellſchaft ein ſelbſtändiges Syſtem der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den äußeren Zwang angewieſen iſt, regulirt es mit einer Art von innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat ſonach in den Geiſteswiſſenſchaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff von Imperativen, der das Leben des Einzelnen regelt, ſondern ihr Gegenſtand iſt eines der großen Syſteme, welche im Leben der Geſellſchaft ihre Funktion haben. An den Zuſammenhang dieſer Syſteme, welche in direkter Weiſe Zwecke verwirklichen, die in den Beſtandtheilen der menſchlichen Natur angelegt ſind, ſchließen ſich die Syſteme von Mitteln, welche in dem Dienſte der direkten Zwecke des geſellſchaftlichen Lebens ſtehen. Ein ſolches Syſtem von Mitteln iſt die Erziehung. Aus den Be- dürfniſſen der Geſellſchaft entſtanden die einzelnen Schulkörper, als Leiſtung von Privatperſonen ſowie von Verbänden, aus un- ſcheinbaren Anfängen: differenzirten ſich, traten in Verbindung untereinander, und nur allmälig, nur theilweiſe wurde das

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/102>, abgerufen am 23.11.2024.