Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. faltigkeit, die Feinheit der Unterschiede, in welcher dies für dasgeschichtlich-gesellschaftliche Leben so wichtige Gefühl die äußere Organisation der Menschheit durchzittert und mit seiner Innigkeit belebt. Die Analyse desselben bildet daher eines der fundamentalen Probleme dieser Einzeltheorien der Gesellschaft. Auch an diesem Punkte steht der verschleiernde Nebel einer Abstraktion, eines Triebs oder Sinns, der als eine Wesenheit in den Staatswissenschaften und der Geschichte aufzutreten pflegt, zwischen dem Beobachter und der Mannigfaltigkeit des Phänomens. Es bedarf der Einzel- analysen. Wie außerordentlich war die Wirkung jener Einzel- analyse auf die theologische Wissenschaft, in welcher Schleiermachers berühmte vierte Rede über Religion aus den Eigenschaften des re- ligiösen Gefühlslebens das Bedürfniß religiöser Geselligkeit und die Eigenschaften des Gemeindebewußtseins in ihrer specifischen Diffe- renz von anderen Formen dieses allgemeinen Gemeinschaftsgefühls abzuleiten, und so die Beziehungen zwischen dem wichtigsten Kul- tursystem und der aus ihm entspringenden äußeren Organisation aufzuzeigen unternahm. Sein Versuch zeigt besonders deutlich, daß es hier zunächst eine Vertiefung in das Erlebniß selber giebt, welche der Selbstbeobachtung in der Einzelpsychologie entspricht, und die von der vergleichenden Untersuchung der geschichtlichen Erscheinungen wie von der psychologischen Analysis gesondert auf- treten kann, wenn dies auch naturgemäß Einseitigkeit des Ergeb- nisses zur Folge hat. Die andere dieser beiden für das Verständniß der äußeren Erſtes einleitendes Buch. faltigkeit, die Feinheit der Unterſchiede, in welcher dies für dasgeſchichtlich-geſellſchaftliche Leben ſo wichtige Gefühl die äußere Organiſation der Menſchheit durchzittert und mit ſeiner Innigkeit belebt. Die Analyſe deſſelben bildet daher eines der fundamentalen Probleme dieſer Einzeltheorien der Geſellſchaft. Auch an dieſem Punkte ſteht der verſchleiernde Nebel einer Abſtraktion, eines Triebs oder Sinns, der als eine Weſenheit in den Staatswiſſenſchaften und der Geſchichte aufzutreten pflegt, zwiſchen dem Beobachter und der Mannigfaltigkeit des Phänomens. Es bedarf der Einzel- analyſen. Wie außerordentlich war die Wirkung jener Einzel- analyſe auf die theologiſche Wiſſenſchaft, in welcher Schleiermachers berühmte vierte Rede über Religion aus den Eigenſchaften des re- ligiöſen Gefühlslebens das Bedürfniß religiöſer Geſelligkeit und die Eigenſchaften des Gemeindebewußtſeins in ihrer ſpecifiſchen Diffe- renz von anderen Formen dieſes allgemeinen Gemeinſchaftsgefühls abzuleiten, und ſo die Beziehungen zwiſchen dem wichtigſten Kul- turſyſtem und der aus ihm entſpringenden äußeren Organiſation aufzuzeigen unternahm. Sein Verſuch zeigt beſonders deutlich, daß es hier zunächſt eine Vertiefung in das Erlebniß ſelber giebt, welche der Selbſtbeobachtung in der Einzelpſychologie entſpricht, und die von der vergleichenden Unterſuchung der geſchichtlichen Erſcheinungen wie von der pſychologiſchen Analyſis geſondert auf- treten kann, wenn dies auch naturgemäß Einſeitigkeit des Ergeb- niſſes zur Folge hat. 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Erſtes einleitendes Buch.
faltigkeit, die Feinheit der Unterſchiede, in welcher dies für das
geſchichtlich-geſellſchaftliche Leben ſo wichtige Gefühl die äußere
Organiſation der Menſchheit durchzittert und mit ſeiner Innigkeit
belebt. Die Analyſe deſſelben bildet daher eines der fundamentalen
Probleme dieſer Einzeltheorien der Geſellſchaft. Auch an dieſem
Punkte ſteht der verſchleiernde Nebel einer Abſtraktion, eines Triebs
oder Sinns, der als eine Weſenheit in den Staatswiſſenſchaften
und der Geſchichte aufzutreten pflegt, zwiſchen dem Beobachter und
der Mannigfaltigkeit des Phänomens. Es bedarf der Einzel-
analyſen. Wie außerordentlich war die Wirkung jener Einzel-
analyſe auf die theologiſche Wiſſenſchaft, in welcher Schleiermachers
berühmte vierte Rede über Religion aus den Eigenſchaften des re-
ligiöſen Gefühlslebens das Bedürfniß religiöſer Geſelligkeit und die
Eigenſchaften des Gemeindebewußtſeins in ihrer ſpecifiſchen Diffe-
renz von anderen Formen dieſes allgemeinen Gemeinſchaftsgefühls
abzuleiten, und ſo die Beziehungen zwiſchen dem wichtigſten Kul-
turſyſtem und der aus ihm entſpringenden äußeren Organiſation
aufzuzeigen unternahm. Sein Verſuch zeigt beſonders deutlich,
daß es hier zunächſt eine Vertiefung in das Erlebniß ſelber giebt,
welche der Selbſtbeobachtung in der Einzelpſychologie entſpricht,
und die von der vergleichenden Unterſuchung der geſchichtlichen
Erſcheinungen wie von der pſychologiſchen Analyſis geſondert auf-
treten kann, wenn dies auch naturgemäß Einſeitigkeit des Ergeb-
niſſes zur Folge hat.
Die andere dieſer beiden für das Verſtändniß der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft fundamentalen pſychiſchen und pſycho-
phyſiſchen Thatſachen wird durch das Verhältniß von Herrſchaft
und Abhängigkeit zwiſchen Willen gebildet. Auch dies Verhält-
niß iſt, wie das der Gemeinſchaft, nur relativ; folgerecht iſt auch jeder
Verband nur relativ. Auch die größte Steigerung der Intenſität
eines äußeren Machtverhältniſſes iſt begrenzt und kann unter Um-
ſtänden von einer Gegenwirkung überboten werden. Man kann
einen Widerſtrebenden von einem Ort zum anderen bewegen; aber
ihn zwingen ſich an dieſen Ort zu begeben, das können wir nur,
indem wir ein Motiv in ihm in Bewegung ſetzen, das ſtärker
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Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/107>, abgerufen am 17.02.2025. |