Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Die Gesellschaftswissenschaft. Eigenthums- und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmachtbestanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und das rapide Wachsthum der Industrie und der Verkehrsverbindungen eine täglich anwachsende Masse von Arbeitern, durch Interessenge- meinschaft über die Grenzen der Einzelstaaten hinaus verbunden, durch den Fortschritt der Aufklärung ihrer Interessen immer deut- licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberstellte. Aus der Auffassung dieser neuen Thatsache entsprang der Versuch einer neuen Theorie, der Gesellschaftswissenschaft. In Frankreich bedeutete Sociologie die Ausführung der gigantischen Traumidee, aus der Verknüpfung aller von der Wissenschaft gefundenen Wahrheiten die Erkenntniß der wahren Natur der Gesellschaft abzuleiten, auf Grund dieser Erkenntniß eine neue den herrschenden Thatsachen der Wissenschaft und Industrie entsprechende äußere Organisation der Gesellschaft zu entwerfen, sowie vermittelst dieser Erkenntniß die neue Gesellschaft zu leiten. In diesem Verstande hat während der gewaltthätigen Krisen in der Wende des Jahrhunderts der Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein Schüler Comte hat die angestrengte Arbeit eines ganzen Lebens mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem systematischen Aufbau dieser Wissenschaft gewidmet. In der Rückwirkung auf diese Arbeiten, unter dem Einfluß 1) Zu der gründlichen Uebersicht der Literatur in Mohls Geschichte
und Literatur der Staatswissenschaften I, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß der erste (und fruchtbarste) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben) hinter 1850 zurückgeht und in Steins Socialismus Frankreichs 2. Aufl. 1848 S. 14 ff. sich findet. Die Geſellſchaftswiſſenſchaft. Eigenthums- und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmachtbeſtanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und das rapide Wachsthum der Induſtrie und der Verkehrsverbindungen eine täglich anwachſende Maſſe von Arbeitern, durch Intereſſenge- meinſchaft über die Grenzen der Einzelſtaaten hinaus verbunden, durch den Fortſchritt der Aufklärung ihrer Intereſſen immer deut- licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberſtellte. Aus der Auffaſſung dieſer neuen Thatſache entſprang der Verſuch einer neuen Theorie, der Geſellſchaftswiſſenſchaft. In Frankreich bedeutete Sociologie die Ausführung der gigantiſchen Traumidee, aus der Verknüpfung aller von der Wiſſenſchaft gefundenen Wahrheiten die Erkenntniß der wahren Natur der Geſellſchaft abzuleiten, auf Grund dieſer Erkenntniß eine neue den herrſchenden Thatſachen der Wiſſenſchaft und Induſtrie entſprechende äußere Organiſation der Geſellſchaft zu entwerfen, ſowie vermittelſt dieſer Erkenntniß die neue Geſellſchaft zu leiten. In dieſem Verſtande hat während der gewaltthätigen Kriſen in der Wende des Jahrhunderts der Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein Schüler Comte hat die angeſtrengte Arbeit eines ganzen Lebens mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem ſyſtematiſchen Aufbau dieſer Wiſſenſchaft gewidmet. In der Rückwirkung auf dieſe Arbeiten, unter dem Einfluß 1) Zu der gründlichen Ueberſicht der Literatur in Mohls Geſchichte
und Literatur der Staatswiſſenſchaften I, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß der erſte (und fruchtbarſte) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben) hinter 1850 zurückgeht und in Steins Socialismus Frankreichs 2. Aufl. 1848 S. 14 ff. ſich findet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0128" n="105"/><fw place="top" type="header">Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.</fw><lb/> Eigenthums- und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmacht<lb/> beſtanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und<lb/> das rapide Wachsthum der Induſtrie und der Verkehrsverbindungen<lb/> eine täglich anwachſende Maſſe von Arbeitern, durch Intereſſenge-<lb/> meinſchaft über die Grenzen der Einzelſtaaten hinaus verbunden,<lb/> durch den Fortſchritt der Aufklärung ihrer Intereſſen immer deut-<lb/> licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberſtellte. Aus der Auffaſſung<lb/> dieſer neuen Thatſache entſprang der Verſuch einer neuen Theorie,<lb/> der <hi rendition="#g">Geſellſchaftswiſſenſchaft</hi>. In Frankreich bedeutete<lb/> Sociologie die Ausführung der gigantiſchen Traumidee, aus der<lb/> Verknüpfung aller von der Wiſſenſchaft gefundenen Wahrheiten die<lb/> Erkenntniß der wahren Natur der Geſellſchaft abzuleiten, auf<lb/> Grund dieſer Erkenntniß eine neue den herrſchenden Thatſachen<lb/> der Wiſſenſchaft und Induſtrie entſprechende äußere Organiſation<lb/> der Geſellſchaft zu entwerfen, ſowie vermittelſt dieſer Erkenntniß<lb/> die neue Geſellſchaft zu leiten. In dieſem Verſtande hat während<lb/> der gewaltthätigen Kriſen in der Wende des Jahrhunderts der<lb/> Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein<lb/> Schüler Comte hat die angeſtrengte Arbeit eines ganzen Lebens<lb/> mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem ſyſtematiſchen Aufbau dieſer<lb/> Wiſſenſchaft gewidmet.</p><lb/> <p>In der Rückwirkung auf dieſe Arbeiten, unter dem Einfluß<lb/> derſelben Lage der Geſellſchaft entſtand in Deutſchland der Begriff<lb/> und Verſuch einer Geſellſchaftslehre<note place="foot" n="1)">Zu der gründlichen Ueberſicht der Literatur in Mohls Geſchichte<lb/> und Literatur der Staatswiſſenſchaften <hi rendition="#aq">I</hi>, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß<lb/> der erſte (und fruchtbarſte) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben)<lb/> hinter 1850 zurückgeht und in <hi rendition="#g">Steins</hi> Socialismus Frankreichs 2. Aufl.<lb/> 1848 S. 14 ff. ſich findet.</note>. In geſundem, wiſſenſchaft-<lb/> lich poſitivem Sinn, unternahm ſie nicht, die Staatswiſſenſchaften<lb/> durch ein Ganzes von ungeheuren Dimenſionen zu erſetzen: ſie<lb/> wollte ſie ergänzen. Das Unzureichende des abſtrakten Staatsbe-<lb/> griffs war, ſeit den erſten Blicken von Schlözer, durch die hiſtoriſche<lb/> Schule immer deutlicher zum Bewußtſein gekommen, dieſe hatte<lb/> die Thatſache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [105/0128]
Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.
Eigenthums- und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmacht
beſtanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und
das rapide Wachsthum der Induſtrie und der Verkehrsverbindungen
eine täglich anwachſende Maſſe von Arbeitern, durch Intereſſenge-
meinſchaft über die Grenzen der Einzelſtaaten hinaus verbunden,
durch den Fortſchritt der Aufklärung ihrer Intereſſen immer deut-
licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberſtellte. Aus der Auffaſſung
dieſer neuen Thatſache entſprang der Verſuch einer neuen Theorie,
der Geſellſchaftswiſſenſchaft. In Frankreich bedeutete
Sociologie die Ausführung der gigantiſchen Traumidee, aus der
Verknüpfung aller von der Wiſſenſchaft gefundenen Wahrheiten die
Erkenntniß der wahren Natur der Geſellſchaft abzuleiten, auf
Grund dieſer Erkenntniß eine neue den herrſchenden Thatſachen
der Wiſſenſchaft und Induſtrie entſprechende äußere Organiſation
der Geſellſchaft zu entwerfen, ſowie vermittelſt dieſer Erkenntniß
die neue Geſellſchaft zu leiten. In dieſem Verſtande hat während
der gewaltthätigen Kriſen in der Wende des Jahrhunderts der
Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein
Schüler Comte hat die angeſtrengte Arbeit eines ganzen Lebens
mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem ſyſtematiſchen Aufbau dieſer
Wiſſenſchaft gewidmet.
In der Rückwirkung auf dieſe Arbeiten, unter dem Einfluß
derſelben Lage der Geſellſchaft entſtand in Deutſchland der Begriff
und Verſuch einer Geſellſchaftslehre 1). In geſundem, wiſſenſchaft-
lich poſitivem Sinn, unternahm ſie nicht, die Staatswiſſenſchaften
durch ein Ganzes von ungeheuren Dimenſionen zu erſetzen: ſie
wollte ſie ergänzen. Das Unzureichende des abſtrakten Staatsbe-
griffs war, ſeit den erſten Blicken von Schlözer, durch die hiſtoriſche
Schule immer deutlicher zum Bewußtſein gekommen, dieſe hatte
die Thatſache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen
1) Zu der gründlichen Ueberſicht der Literatur in Mohls Geſchichte
und Literatur der Staatswiſſenſchaften I, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß
der erſte (und fruchtbarſte) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben)
hinter 1850 zurückgeht und in Steins Socialismus Frankreichs 2. Aufl.
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