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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
einen außer dem Staate stehenden Organismus" 1) verstanden
wissen, als ob irgend einer ihrer Lebenskreise außerhalb der
Alles erhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat ge-
schaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm
selber zu ihren Merkmalen gehört. Stein construirt gesellschaftliche
Ordnungen und Verbände und läßt dann über sie im Staat sich
die Einheit in absoluter Selbstbestimmung zur höchsten Form all-
gemeiner Persönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Gesellschaft
und Staat einander als Mächte gegenübertreten, so kann der Em-
piriker dem doch nur die Unterscheidung der zu einer gegebenen
Zeit bestehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrschaftssphäre
befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, sondern in einem
eigenen System von Beziehungen stehenden freien Kräfte unter-
legen. In einer theoretischen Betrachtung über die Kräfteverhält-
nisse im politischen Leben kann man so gut als das Kräfteverhält-
niß zwischen Staatseinheiten auch das zwischen der Staatsmacht
und den freien Kräften in's Auge fassen. Aber Gesellschaft in
diesem Verstande faßt auch Reste älterer staatlicher Ordnungen in
sich sie setzt sich nicht wie die Gesellschaft Steins aus Beziehungen
von einer bestimmten Provenienz zusammen.



XIV.
Philosophie der Geschichte und Sociologie sind keine
wirklichen Wissenschaften.

Wir stehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung ge-
langten Einzelwissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit. Diese haben zunächst Bau und Funktionen der wichtigsten
dauernden Thatbestände in der Welt der psychophysischen Wechsel-
wirkungen zwischen Individuen innerhalb des Naturganzen erforscht.
Es bedarf anhaltender Uebung, um diese übereinander sich lagernden,
einander sich schneidenden engeren Zusammenhänge von Wechsel-

1) Mohl, Lit. d. Staatswiss. 1, 1855 S. 82.

Erſtes einleitendes Buch.
einen außer dem Staate ſtehenden Organismus“ 1) verſtanden
wiſſen, als ob irgend einer ihrer Lebenskreiſe außerhalb der
Alles erhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat ge-
ſchaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm
ſelber zu ihren Merkmalen gehört. Stein conſtruirt geſellſchaftliche
Ordnungen und Verbände und läßt dann über ſie im Staat ſich
die Einheit in abſoluter Selbſtbeſtimmung zur höchſten Form all-
gemeiner Perſönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Geſellſchaft
und Staat einander als Mächte gegenübertreten, ſo kann der Em-
piriker dem doch nur die Unterſcheidung der zu einer gegebenen
Zeit beſtehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrſchaftsſphäre
befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, ſondern in einem
eigenen Syſtem von Beziehungen ſtehenden freien Kräfte unter-
legen. In einer theoretiſchen Betrachtung über die Kräfteverhält-
niſſe im politiſchen Leben kann man ſo gut als das Kräfteverhält-
niß zwiſchen Staatseinheiten auch das zwiſchen der Staatsmacht
und den freien Kräften in’s Auge faſſen. Aber Geſellſchaft in
dieſem Verſtande faßt auch Reſte älterer ſtaatlicher Ordnungen in
ſich ſie ſetzt ſich nicht wie die Geſellſchaft Steins aus Beziehungen
von einer beſtimmten Provenienz zuſammen.



XIV.
Philoſophie der Geſchichte und Sociologie ſind keine
wirklichen Wiſſenſchaften.

Wir ſtehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung ge-
langten Einzelwiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit. Dieſe haben zunächſt Bau und Funktionen der wichtigſten
dauernden Thatbeſtände in der Welt der pſychophyſiſchen Wechſel-
wirkungen zwiſchen Individuen innerhalb des Naturganzen erforſcht.
Es bedarf anhaltender Uebung, um dieſe übereinander ſich lagernden,
einander ſich ſchneidenden engeren Zuſammenhänge von Wechſel-

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[108/0131] Erſtes einleitendes Buch. einen außer dem Staate ſtehenden Organismus“ 1) verſtanden wiſſen, als ob irgend einer ihrer Lebenskreiſe außerhalb der Alles erhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat ge- ſchaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm ſelber zu ihren Merkmalen gehört. Stein conſtruirt geſellſchaftliche Ordnungen und Verbände und läßt dann über ſie im Staat ſich die Einheit in abſoluter Selbſtbeſtimmung zur höchſten Form all- gemeiner Perſönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Geſellſchaft und Staat einander als Mächte gegenübertreten, ſo kann der Em- piriker dem doch nur die Unterſcheidung der zu einer gegebenen Zeit beſtehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrſchaftsſphäre befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, ſondern in einem eigenen Syſtem von Beziehungen ſtehenden freien Kräfte unter- legen. In einer theoretiſchen Betrachtung über die Kräfteverhält- niſſe im politiſchen Leben kann man ſo gut als das Kräfteverhält- niß zwiſchen Staatseinheiten auch das zwiſchen der Staatsmacht und den freien Kräften in’s Auge faſſen. Aber Geſellſchaft in dieſem Verſtande faßt auch Reſte älterer ſtaatlicher Ordnungen in ſich ſie ſetzt ſich nicht wie die Geſellſchaft Steins aus Beziehungen von einer beſtimmten Provenienz zuſammen. XIV. Philoſophie der Geſchichte und Sociologie ſind keine wirklichen Wiſſenſchaften. Wir ſtehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung ge- langten Einzelwiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk- lichkeit. Dieſe haben zunächſt Bau und Funktionen der wichtigſten dauernden Thatbeſtände in der Welt der pſychophyſiſchen Wechſel- wirkungen zwiſchen Individuen innerhalb des Naturganzen erforſcht. Es bedarf anhaltender Uebung, um dieſe übereinander ſich lagernden, einander ſich ſchneidenden engeren Zuſammenhänge von Wechſel- 1) Mohl, Lit. d. Staatswiſſ. 1, 1855 S. 82.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/131>, abgerufen am 27.11.2024.