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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Dreifache Verbind. j. Unters. m. d. Ganzen d. gesch.-ges. Wirklichkeit.
lichkeit. Sie verhalten sich zu einander wie das sittliche Urtheil
zu den Beweggründen des Handelns. Auch diese Thatsache, welche
die Wirkung von Dichtungen, die auf die Berechnung dieser Wir-
kungen gegründete Technik, die Uebertragung ästhetischer Stimmungen
auf ein Zeitalter erklärt, ist eine Folgethatsache der allgemeinen
Gesetze des geistigen Lebens. -- Sonach ist das Studium der Ge-
schichte dichterischer Werke und der nationalen Literaturen an zwei
Punkten von dem des geistigen Lebens überhaupt bedingt. Ein-
mal fanden wir es nämlich abhängig von der Erkenntniß des
Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der concrete
ursächliche Zusammenhang ist hineinverwebt in den der menschlichen
Kultur überhaupt. Wir fanden aber zweitens: die Natur geistiger
Thätigkeit, welche diese Schöpfungen hervorgebracht hat, wirkt nach
den Gesetzen, welche das geistige Leben überhaupt beherrschen.
Daher muß eine wahre Poetik, welche Grundlage für das Studium
der schönen Literatur und ihrer Geschichte sein soll, ihre Begriffe
und Sätze aus der Verknüpfung geschichtlicher Forschung mit
diesem allgemeinen Studium der menschlichen Natur gewinnen. --
Unverächtlich ist endlich die alte Aufgabe einer solchen Poetik,
Regeln für die Hervorbringung und die Beurtheilung von dich-
terischen Werken zu entwerfen. Die zwei classischen Arbeiten
Lessings haben gezeigt, wie klare Regeln aus den Bedingungen,
unter die unsere ästhetische Empfänglichkeit vermöge der allgemeinen
Natur einer bestimmten künstlerischen Aufgabe tritt, abgeleitet
werden können. Den Hintergrund einer allgemeinen Methode von
Abschätzung dessen, was den Eindruck dichterischer Werke bestimmt,
hat freilich Lessing absichtlich, nach der ihm eigenen Strategie der
Theilung von Fragen und Aussonderung der zur Zeit ihm auf-
lösbaren Einzelprobleme, in seinem Dunkel gelassen; aber es ist klar,
daß die Behandlung dieses solchergestalt allgemein gefaßten Problems
vermittelst der Analyse der ästhetischen Wirkungen auf die allge-
meinsten Eigenschaften der menschlichen Natur zurückgeführt haben
würde. Wir können also das ästhetische Urtheil nicht auslösen
aus der Auffassung dieses Theils der Geschichte; schon dem In-
teresse, das aus dem Strom des Gleichgiltigen ein Werk zur Be-

Dreifache Verbind. j. Unterſ. m. d. Ganzen d. geſch.-geſ. Wirklichkeit.
lichkeit. Sie verhalten ſich zu einander wie das ſittliche Urtheil
zu den Beweggründen des Handelns. Auch dieſe Thatſache, welche
die Wirkung von Dichtungen, die auf die Berechnung dieſer Wir-
kungen gegründete Technik, die Uebertragung äſthetiſcher Stimmungen
auf ein Zeitalter erklärt, iſt eine Folgethatſache der allgemeinen
Geſetze des geiſtigen Lebens. — Sonach iſt das Studium der Ge-
ſchichte dichteriſcher Werke und der nationalen Literaturen an zwei
Punkten von dem des geiſtigen Lebens überhaupt bedingt. Ein-
mal fanden wir es nämlich abhängig von der Erkenntniß des
Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Der concrete
urſächliche Zuſammenhang iſt hineinverwebt in den der menſchlichen
Kultur überhaupt. Wir fanden aber zweitens: die Natur geiſtiger
Thätigkeit, welche dieſe Schöpfungen hervorgebracht hat, wirkt nach
den Geſetzen, welche das geiſtige Leben überhaupt beherrſchen.
Daher muß eine wahre Poetik, welche Grundlage für das Studium
der ſchönen Literatur und ihrer Geſchichte ſein ſoll, ihre Begriffe
und Sätze aus der Verknüpfung geſchichtlicher Forſchung mit
dieſem allgemeinen Studium der menſchlichen Natur gewinnen. —
Unverächtlich iſt endlich die alte Aufgabe einer ſolchen Poetik,
Regeln für die Hervorbringung und die Beurtheilung von dich-
teriſchen Werken zu entwerfen. Die zwei claſſiſchen Arbeiten
Leſſings haben gezeigt, wie klare Regeln aus den Bedingungen,
unter die unſere äſthetiſche Empfänglichkeit vermöge der allgemeinen
Natur einer beſtimmten künſtleriſchen Aufgabe tritt, abgeleitet
werden können. Den Hintergrund einer allgemeinen Methode von
Abſchätzung deſſen, was den Eindruck dichteriſcher Werke beſtimmt,
hat freilich Leſſing abſichtlich, nach der ihm eigenen Strategie der
Theilung von Fragen und Ausſonderung der zur Zeit ihm auf-
lösbaren Einzelprobleme, in ſeinem Dunkel gelaſſen; aber es iſt klar,
daß die Behandlung dieſes ſolchergeſtalt allgemein gefaßten Problems
vermittelſt der Analyſe der äſthetiſchen Wirkungen auf die allge-
meinſten Eigenſchaften der menſchlichen Natur zurückgeführt haben
würde. Wir können alſo das äſthetiſche Urtheil nicht auslöſen
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[111/0134] Dreifache Verbind. j. Unterſ. m. d. Ganzen d. geſch.-geſ. Wirklichkeit. lichkeit. Sie verhalten ſich zu einander wie das ſittliche Urtheil zu den Beweggründen des Handelns. Auch dieſe Thatſache, welche die Wirkung von Dichtungen, die auf die Berechnung dieſer Wir- kungen gegründete Technik, die Uebertragung äſthetiſcher Stimmungen auf ein Zeitalter erklärt, iſt eine Folgethatſache der allgemeinen Geſetze des geiſtigen Lebens. — Sonach iſt das Studium der Ge- ſchichte dichteriſcher Werke und der nationalen Literaturen an zwei Punkten von dem des geiſtigen Lebens überhaupt bedingt. Ein- mal fanden wir es nämlich abhängig von der Erkenntniß des Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Der concrete urſächliche Zuſammenhang iſt hineinverwebt in den der menſchlichen Kultur überhaupt. Wir fanden aber zweitens: die Natur geiſtiger Thätigkeit, welche dieſe Schöpfungen hervorgebracht hat, wirkt nach den Geſetzen, welche das geiſtige Leben überhaupt beherrſchen. Daher muß eine wahre Poetik, welche Grundlage für das Studium der ſchönen Literatur und ihrer Geſchichte ſein ſoll, ihre Begriffe und Sätze aus der Verknüpfung geſchichtlicher Forſchung mit dieſem allgemeinen Studium der menſchlichen Natur gewinnen. — Unverächtlich iſt endlich die alte Aufgabe einer ſolchen Poetik, Regeln für die Hervorbringung und die Beurtheilung von dich- teriſchen Werken zu entwerfen. Die zwei claſſiſchen Arbeiten Leſſings haben gezeigt, wie klare Regeln aus den Bedingungen, unter die unſere äſthetiſche Empfänglichkeit vermöge der allgemeinen Natur einer beſtimmten künſtleriſchen Aufgabe tritt, abgeleitet werden können. Den Hintergrund einer allgemeinen Methode von Abſchätzung deſſen, was den Eindruck dichteriſcher Werke beſtimmt, hat freilich Leſſing abſichtlich, nach der ihm eigenen Strategie der Theilung von Fragen und Ausſonderung der zur Zeit ihm auf- lösbaren Einzelprobleme, in ſeinem Dunkel gelaſſen; aber es iſt klar, daß die Behandlung dieſes ſolchergeſtalt allgemein gefaßten Problems vermittelſt der Analyſe der äſthetiſchen Wirkungen auf die allge- meinſten Eigenſchaften der menſchlichen Natur zurückgeführt haben würde. Wir können alſo das äſthetiſche Urtheil nicht auslöſen aus der Auffaſſung dieſes Theils der Geſchichte; ſchon dem In- tereſſe, das aus dem Strom des Gleichgiltigen ein Werk zur Be-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/134>, abgerufen am 23.11.2024.