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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Analysis zerrissen, welche einen einzelnen Bestandtheil dieses
Ganzen der theoretischen Betrachtung unterwirft; jede Theorie, welche
so in den Einzelwissenschaften der Gesellschaft, die wir erörtert
haben, entsteht, ist ein weiterer Schritt in der Loslösung eines all-
gemeinen erklärenden Zusammenhangs von dem Gewebe der That-
sachen;
und diesen Vorgang hält nichts auf: der Gesammtzu-
sammenhang
, welchen die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit
ausmacht, muß Gegenstand einer theoretischen Betrachtung werden,
welche auf das Erklärbare in diesem Zusammenhang gerichtet ist.

Aber ist nun die Philosophie der Geschichte oder die Socio-
logie diese theoretische Betrachtung? Der Zusammenhang dieser
ganzen Darlegung enthält die Prämissen, aus welchen diese Frage
verneint werden muß.



XV.
Ihre Aufgabe ist unlösbar.
Bestimmung der Aufgabe der Geschichtswissenschaft im
Zusammenhang der Geisteswissenschaften.

Es besteht ein unlösbarer Widerspruch zwischen der Aufgabe,
welche diese beiden Wissenschaften sich gestellt haben, und den Hilfs-
mitteln, welche ihnen zur Lösung derselben zur Verfügung stehen.

Unter Philosophie der Geschichte verstehe ich eine
Theorie, welche den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit
durch einen entsprechenden Zusammenhang zu einer Einheit ver-
bundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieses Merkmal der
Einheit des Gedankens ist von einer Theorie unabtrennbar, welche
eben in der Erkenntniß vom Zusammenhang des Ganzen ihre
unterscheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philosophie der Ge-
schichte bald in einem Plan des geschichtlichen Verlaufs diese Ein-
heit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in
einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das
Gesetz der Entwicklung ausdrücken. Die Sociologie (ich spreche

Erſtes einleitendes Buch.
Analyſis zerriſſen, welche einen einzelnen Beſtandtheil dieſes
Ganzen der theoretiſchen Betrachtung unterwirft; jede Theorie, welche
ſo in den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft, die wir erörtert
haben, entſteht, iſt ein weiterer Schritt in der Loslöſung eines all-
gemeinen erklärenden Zuſammenhangs von dem Gewebe der That-
ſachen;
und dieſen Vorgang hält nichts auf: der Geſammtzu-
ſammenhang
, welchen die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit
ausmacht, muß Gegenſtand einer theoretiſchen Betrachtung werden,
welche auf das Erklärbare in dieſem Zuſammenhang gerichtet iſt.

Aber iſt nun die Philoſophie der Geſchichte oder die Socio-
logie dieſe theoretiſche Betrachtung? Der Zuſammenhang dieſer
ganzen Darlegung enthält die Prämiſſen, aus welchen dieſe Frage
verneint werden muß.



XV.
Ihre Aufgabe iſt unlösbar.
Beſtimmung der Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft im
Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften.

Es beſteht ein unlösbarer Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe,
welche dieſe beiden Wiſſenſchaften ſich geſtellt haben, und den Hilfs-
mitteln, welche ihnen zur Löſung derſelben zur Verfügung ſtehen.

Unter Philoſophie der Geſchichte verſtehe ich eine
Theorie, welche den Zuſammenhang der geſchichtlichen Wirklichkeit
durch einen entſprechenden Zuſammenhang zu einer Einheit ver-
bundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieſes Merkmal der
Einheit des Gedankens iſt von einer Theorie unabtrennbar, welche
eben in der Erkenntniß vom Zuſammenhang des Ganzen ihre
unterſcheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philoſophie der Ge-
ſchichte bald in einem Plan des geſchichtlichen Verlaufs dieſe Ein-
heit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in
einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das
Geſetz der Entwicklung ausdrücken. Die Sociologie (ich ſpreche

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[116/0139] Erſtes einleitendes Buch. Analyſis zerriſſen, welche einen einzelnen Beſtandtheil dieſes Ganzen der theoretiſchen Betrachtung unterwirft; jede Theorie, welche ſo in den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft, die wir erörtert haben, entſteht, iſt ein weiterer Schritt in der Loslöſung eines all- gemeinen erklärenden Zuſammenhangs von dem Gewebe der That- ſachen; und dieſen Vorgang hält nichts auf: der Geſammtzu- ſammenhang, welchen die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht, muß Gegenſtand einer theoretiſchen Betrachtung werden, welche auf das Erklärbare in dieſem Zuſammenhang gerichtet iſt. Aber iſt nun die Philoſophie der Geſchichte oder die Socio- logie dieſe theoretiſche Betrachtung? Der Zuſammenhang dieſer ganzen Darlegung enthält die Prämiſſen, aus welchen dieſe Frage verneint werden muß. XV. Ihre Aufgabe iſt unlösbar. Beſtimmung der Aufgabe der Geſchichtswiſſenſchaft im Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften. Es beſteht ein unlösbarer Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe, welche dieſe beiden Wiſſenſchaften ſich geſtellt haben, und den Hilfs- mitteln, welche ihnen zur Löſung derſelben zur Verfügung ſtehen. Unter Philoſophie der Geſchichte verſtehe ich eine Theorie, welche den Zuſammenhang der geſchichtlichen Wirklichkeit durch einen entſprechenden Zuſammenhang zu einer Einheit ver- bundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieſes Merkmal der Einheit des Gedankens iſt von einer Theorie unabtrennbar, welche eben in der Erkenntniß vom Zuſammenhang des Ganzen ihre unterſcheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philoſophie der Ge- ſchichte bald in einem Plan des geſchichtlichen Verlaufs dieſe Ein- heit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das Geſetz der Entwicklung ausdrücken. Die Sociologie (ich ſpreche

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/139>, abgerufen am 23.11.2024.