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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Methoden der Philosophie der Geschichte sind falsch.
fruchtbaren Gährung selber, in der die Einzelwissenschaften des Geistes
in einander arbeiteten: eine werdende Welt. Diese geniale Anschau-
ung ist durch die metaphysische Schule auf ein Princip zurückgeführt
worden. Wohl empfing durch diese Concentration der Gehalt der
genialen Anschauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der
Wirkung; aber diese Concentration kam nur zu Stande, indem nun
die notiones universales ihr graues Netz über die geschichtliche Welt
ausbreiteten. Der "Geist" Hegels, welcher in der Geschichte zum
Bewußtsein seiner Freiheit kommt oder die "Vernunft" Schleier-
machers, welche die Natur durchdringt und gestaltet, dies ist eine
abstrakte Wesenheit, welche in einer farblosen Abstraktion den
geschichtlichen Weltlauf zusammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und
ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Faust hinabsteigt.
Aus der Anschauung abstrahirte Allgemeinvorstellungen sind dann
die universalgeschichtlichen Epochen Hegels, und zwar ist die Ab-
straktion, die sie gewinnt, durch das metaphysische Prinzip geleitet;
denn die Weltgeschichte ist ihm "eine Reihe von Bestimmungen
der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen".
Aus der Anschauung abstrahirte Allgemeinvorstellungen sind die
Grundgestalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher ent-
wirft, in denen dieses Handeln "als ein Mannichfaltiges, abgesehen
von den Bestimmungen durch Raum und Zeit, gesondert durch Be-
griffsbestimmungen" erkannt wird. Hegel, der von der Geschichte
ausging, ordnet diese Allgemeinvorstellungen in einer Zeitreihe,
Schleiermacher, der von dem Erlebniß in der gegenwärtigen Gesell-
schaft ausgeht, breitet sie nebeneinander aus, wie ein anderes
Naturreich.

Die Methoden, deren sich die Sociologie bedient hat, treten
freilich mit dem Anspruch auf, daß durch sie die metaphysische
Epoche abgethan, die der positiven Philosophie eröffnet sei. Doch
hat der Begründer dieser Philosophie, Comte, nur eine naturalistische
Metaphysik der Geschichte geschaffen, welche als solche den Thatsachen
des geschichtlichen Verlaufs viel weniger angemessen war als die
von Hegel oder Schleiermacher. Daher sind auch seine Allgemeinbe-
griffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irr-

9*

Die Methoden der Philoſophie der Geſchichte ſind falſch.
fruchtbaren Gährung ſelber, in der die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes
in einander arbeiteten: eine werdende Welt. Dieſe geniale Anſchau-
ung iſt durch die metaphyſiſche Schule auf ein Princip zurückgeführt
worden. Wohl empfing durch dieſe Concentration der Gehalt der
genialen Anſchauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der
Wirkung; aber dieſe Concentration kam nur zu Stande, indem nun
die notiones universales ihr graues Netz über die geſchichtliche Welt
ausbreiteten. Der „Geiſt“ Hegels, welcher in der Geſchichte zum
Bewußtſein ſeiner Freiheit kommt oder die „Vernunft“ Schleier-
machers, welche die Natur durchdringt und geſtaltet, dies iſt eine
abſtrakte Weſenheit, welche in einer farbloſen Abſtraktion den
geſchichtlichen Weltlauf zuſammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und
ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Fauſt hinabſteigt.
Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind dann
die univerſalgeſchichtlichen Epochen Hegels, und zwar iſt die Ab-
ſtraktion, die ſie gewinnt, durch das metaphyſiſche Prinzip geleitet;
denn die Weltgeſchichte iſt ihm „eine Reihe von Beſtimmungen
der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen“.
Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind die
Grundgeſtalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher ent-
wirft, in denen dieſes Handeln „als ein Mannichfaltiges, abgeſehen
von den Beſtimmungen durch Raum und Zeit, geſondert durch Be-
griffsbeſtimmungen“ erkannt wird. Hegel, der von der Geſchichte
ausging, ordnet dieſe Allgemeinvorſtellungen in einer Zeitreihe,
Schleiermacher, der von dem Erlebniß in der gegenwärtigen Geſell-
ſchaft ausgeht, breitet ſie nebeneinander aus, wie ein anderes
Naturreich.

Die Methoden, deren ſich die Sociologie bedient hat, treten
freilich mit dem Anſpruch auf, daß durch ſie die metaphyſiſche
Epoche abgethan, die der poſitiven Philoſophie eröffnet ſei. Doch
hat der Begründer dieſer Philoſophie, Comte, nur eine naturaliſtiſche
Metaphyſik der Geſchichte geſchaffen, welche als ſolche den Thatſachen
des geſchichtlichen Verlaufs viel weniger angemeſſen war als die
von Hegel oder Schleiermacher. Daher ſind auch ſeine Allgemeinbe-
griffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irr-

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[131/0154] Die Methoden der Philoſophie der Geſchichte ſind falſch. fruchtbaren Gährung ſelber, in der die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes in einander arbeiteten: eine werdende Welt. Dieſe geniale Anſchau- ung iſt durch die metaphyſiſche Schule auf ein Princip zurückgeführt worden. Wohl empfing durch dieſe Concentration der Gehalt der genialen Anſchauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der Wirkung; aber dieſe Concentration kam nur zu Stande, indem nun die notiones universales ihr graues Netz über die geſchichtliche Welt ausbreiteten. Der „Geiſt“ Hegels, welcher in der Geſchichte zum Bewußtſein ſeiner Freiheit kommt oder die „Vernunft“ Schleier- machers, welche die Natur durchdringt und geſtaltet, dies iſt eine abſtrakte Weſenheit, welche in einer farbloſen Abſtraktion den geſchichtlichen Weltlauf zuſammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Fauſt hinabſteigt. Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind dann die univerſalgeſchichtlichen Epochen Hegels, und zwar iſt die Ab- ſtraktion, die ſie gewinnt, durch das metaphyſiſche Prinzip geleitet; denn die Weltgeſchichte iſt ihm „eine Reihe von Beſtimmungen der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen“. Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind die Grundgeſtalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher ent- wirft, in denen dieſes Handeln „als ein Mannichfaltiges, abgeſehen von den Beſtimmungen durch Raum und Zeit, geſondert durch Be- griffsbeſtimmungen“ erkannt wird. Hegel, der von der Geſchichte ausging, ordnet dieſe Allgemeinvorſtellungen in einer Zeitreihe, Schleiermacher, der von dem Erlebniß in der gegenwärtigen Geſell- ſchaft ausgeht, breitet ſie nebeneinander aus, wie ein anderes Naturreich. Die Methoden, deren ſich die Sociologie bedient hat, treten freilich mit dem Anſpruch auf, daß durch ſie die metaphyſiſche Epoche abgethan, die der poſitiven Philoſophie eröffnet ſei. Doch hat der Begründer dieſer Philoſophie, Comte, nur eine naturaliſtiſche Metaphyſik der Geſchichte geſchaffen, welche als ſolche den Thatſachen des geſchichtlichen Verlaufs viel weniger angemeſſen war als die von Hegel oder Schleiermacher. Daher ſind auch ſeine Allgemeinbe- griffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irr- 9*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/154>, abgerufen am 24.11.2024.