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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Methode der Sociologie Comte's ist falsch.
Turgot festgestellt worden, und die Ausführung Comte's mißlang,
da ihm das Detail der Geschichte der Theologie und Meta-
physik nicht bekannt war. So vermag seine Sociologie die
Stellung nicht zu erschüttern, welche das positive Studium des
geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens stets behauptet hat: als die
Eine Hälfte des Kosmos der Wissenschaften, ruhend auf ihren
eigenthümlichen und unabhängigen Erkenntnißbedingungen, an-
wachsend aus eigenen Erkenntnißmitteln in erster Linie, dabei
mitbestimmt durch den Fortschritt der Wissenschaften vom Erd-
ganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm.

Brachte so Comte seine Sociologie in eine blendende, aber
falsche Beziehung zu den Naturwissenschaften, so hat er andrer-
seits das wahre und fruchtbare Verhältniß jeder geschichtlichen
Betrachtung zu den Einzelwissenschaften des Menschen und der
Gesellschaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerspruch mit
seinem Prinzip der positiven Philosophie, hat er seine ungestümen
Generalisationen außer Zusammenhang mit der methodischen Ver-
werthung der positiven Wissenschaften des Geistes abgeleitet, aus-
genommen seine Theorie über den Zusammenhang der Entwick-
lung der Intelligenz.

Als eine Abschwächung dieses Prinzips der Unterordnung
der geschichtlichen Erscheinungen unter die Naturwissenschaften, wie
es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet
werden, welche Stuart Mill in seinem berühmten Capitel über
die Logik der Geisteswissenschaften vertritt. Kehrt er dem Meta-
physischen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine
gesundere Richtung in der Betrachtung der Geschichte vorbereiten
können, so wirkt doch in seiner Methode die Unterordnung der
Geisteswissenschaften unter die der Natur in verhängnißvoller
Weise nach. Er unterscheidet sich von Comte, wie sich das auf
Psychologie gegründete natürliche System der gesellschaftlichen
Funktionen und Lebenssphären, welches die Engländer im 18. Jahr-
hundert aufgestellt hatten, von dem auf die Naturwissenschaften
gegründeten unterscheidet, welches die französischen Materialisten des
18. Jahrhunderts vertheidigt hatten. Er erkennt die Selbständig-

Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.
Turgot feſtgeſtellt worden, und die Ausführung Comte’s mißlang,
da ihm das Detail der Geſchichte der Theologie und Meta-
phyſik nicht bekannt war. So vermag ſeine Sociologie die
Stellung nicht zu erſchüttern, welche das poſitive Studium des
geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſtets behauptet hat: als die
Eine Hälfte des Kosmos der Wiſſenſchaften, ruhend auf ihren
eigenthümlichen und unabhängigen Erkenntnißbedingungen, an-
wachſend aus eigenen Erkenntnißmitteln in erſter Linie, dabei
mitbeſtimmt durch den Fortſchritt der Wiſſenſchaften vom Erd-
ganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm.

Brachte ſo Comte ſeine Sociologie in eine blendende, aber
falſche Beziehung zu den Naturwiſſenſchaften, ſo hat er andrer-
ſeits das wahre und fruchtbare Verhältniß jeder geſchichtlichen
Betrachtung zu den Einzelwiſſenſchaften des Menſchen und der
Geſellſchaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerſpruch mit
ſeinem Prinzip der poſitiven Philoſophie, hat er ſeine ungeſtümen
Generaliſationen außer Zuſammenhang mit der methodiſchen Ver-
werthung der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes abgeleitet, aus-
genommen ſeine Theorie über den Zuſammenhang der Entwick-
lung der Intelligenz.

Als eine Abſchwächung dieſes Prinzips der Unterordnung
der geſchichtlichen Erſcheinungen unter die Naturwiſſenſchaften, wie
es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet
werden, welche Stuart Mill in ſeinem berühmten Capitel über
die Logik der Geiſteswiſſenſchaften vertritt. Kehrt er dem Meta-
phyſiſchen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine
geſundere Richtung in der Betrachtung der Geſchichte vorbereiten
können, ſo wirkt doch in ſeiner Methode die Unterordnung der
Geiſteswiſſenſchaften unter die der Natur in verhängnißvoller
Weiſe nach. Er unterſcheidet ſich von Comte, wie ſich das auf
Pſychologie gegründete natürliche Syſtem der geſellſchaftlichen
Funktionen und Lebensſphären, welches die Engländer im 18. Jahr-
hundert aufgeſtellt hatten, von dem auf die Naturwiſſenſchaften
gegründeten unterſcheidet, welches die franzöſiſchen Materialiſten des
18. Jahrhunderts vertheidigt hatten. Er erkennt die Selbſtändig-

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[135/0158] Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch. Turgot feſtgeſtellt worden, und die Ausführung Comte’s mißlang, da ihm das Detail der Geſchichte der Theologie und Meta- phyſik nicht bekannt war. So vermag ſeine Sociologie die Stellung nicht zu erſchüttern, welche das poſitive Studium des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſtets behauptet hat: als die Eine Hälfte des Kosmos der Wiſſenſchaften, ruhend auf ihren eigenthümlichen und unabhängigen Erkenntnißbedingungen, an- wachſend aus eigenen Erkenntnißmitteln in erſter Linie, dabei mitbeſtimmt durch den Fortſchritt der Wiſſenſchaften vom Erd- ganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm. Brachte ſo Comte ſeine Sociologie in eine blendende, aber falſche Beziehung zu den Naturwiſſenſchaften, ſo hat er andrer- ſeits das wahre und fruchtbare Verhältniß jeder geſchichtlichen Betrachtung zu den Einzelwiſſenſchaften des Menſchen und der Geſellſchaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerſpruch mit ſeinem Prinzip der poſitiven Philoſophie, hat er ſeine ungeſtümen Generaliſationen außer Zuſammenhang mit der methodiſchen Ver- werthung der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes abgeleitet, aus- genommen ſeine Theorie über den Zuſammenhang der Entwick- lung der Intelligenz. Als eine Abſchwächung dieſes Prinzips der Unterordnung der geſchichtlichen Erſcheinungen unter die Naturwiſſenſchaften, wie es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet werden, welche Stuart Mill in ſeinem berühmten Capitel über die Logik der Geiſteswiſſenſchaften vertritt. Kehrt er dem Meta- phyſiſchen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine geſundere Richtung in der Betrachtung der Geſchichte vorbereiten können, ſo wirkt doch in ſeiner Methode die Unterordnung der Geiſteswiſſenſchaften unter die der Natur in verhängnißvoller Weiſe nach. Er unterſcheidet ſich von Comte, wie ſich das auf Pſychologie gegründete natürliche Syſtem der geſellſchaftlichen Funktionen und Lebensſphären, welches die Engländer im 18. Jahr- hundert aufgeſtellt hatten, von dem auf die Naturwiſſenſchaften gegründeten unterſcheidet, welches die franzöſiſchen Materialiſten des 18. Jahrhunderts vertheidigt hatten. Er erkennt die Selbſtändig-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/158>, abgerufen am 21.11.2024.