Zweites Kapitel. Der Begriff der Metaphysik. Das Problem ihres Verhältnisses zu den nächstverwandten Erscheinungen.
Die Betrachtung der geschichtlichen Welt gab uns eine schwere Frage auf. Die Wechselwirkung der Individualeinheiten, ihrer Freiheit, ja ihrer Willkür (diese Worte in dem Verstande von Namen für das Erlebniß, nicht für eine Theorie genommen), die Verschiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten, endlich die aus dem Naturzusammenhang, in welchem dies Alles auftritt, stammenden Schicksale: dieser ganze Pragmatismus der Geschichte bewirkt einen zusammengesetzten weltgeschicht- lichen Zweckzusammenhang, vermittelst der Gleichartigkeit der Menschennatur sowie vermittelst anderer Züge in ihr, welche eine Mitarbeit des Einzelnen an einem über ihn selber Hinaus- reichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Systeme sowie der äußeren Organisation der Menschheit: in Staat und Recht, wirth- schaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunst und Wissenschaft. So entstehen Einheit, Nothwendigkeit und Gesetz in der Geschichte unseres Geschlechts. Mag der pragmatische Geschichtschreiber im Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und des Geschicks oder auch einer höheren Hand schwelgen, mag der Metaphysiker seine abstrakten Formeln diesen wirkenden Kräften substituiren, als ob sie gleich den Gestirngeistern der eben- falls durch metaphysische Vorstellungen genährten Astrologie dem Menschengeschlecht seine Bahn vorschrieben: beide reichen nicht ein- mal an diese Frage selber heran. Das Geheimniß der Geschichte und der Menschheit ist tiefsinniger als die Einen und die Anderen. Sein Schleier lüftet sich, wo man den mit sich selber beschäftigten Willen des Menschen, gegen seine Absicht, an einem über ihn hinausreichenden Zweckzusammenhang wirken oder wo man seine eingeschränkte Intelligenz an diesem Zusammenhang etwas voll- bringen sieht, dessen dieser bedarf, das aber von der einzelnen In- telligenz weder beabsichtigt noch vorausgesehen war. Der blinde Faust
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Zweites Kapitel. Der Begriff der Metaphyſik. Das Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.
Die Betrachtung der geſchichtlichen Welt gab uns eine ſchwere Frage auf. Die Wechſelwirkung der Individualeinheiten, ihrer Freiheit, ja ihrer Willkür (dieſe Worte in dem Verſtande von Namen für das Erlebniß, nicht für eine Theorie genommen), die Verſchiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten, endlich die aus dem Naturzuſammenhang, in welchem dies Alles auftritt, ſtammenden Schickſale: dieſer ganze Pragmatismus der Geſchichte bewirkt einen zuſammengeſetzten weltgeſchicht- lichen Zweckzuſammenhang, vermittelſt der Gleichartigkeit der Menſchennatur ſowie vermittelſt anderer Züge in ihr, welche eine Mitarbeit des Einzelnen an einem über ihn ſelber Hinaus- reichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Syſteme ſowie der äußeren Organiſation der Menſchheit: in Staat und Recht, wirth- ſchaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft. So entſtehen Einheit, Nothwendigkeit und Geſetz in der Geſchichte unſeres Geſchlechts. Mag der pragmatiſche Geſchichtſchreiber im Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und des Geſchicks oder auch einer höheren Hand ſchwelgen, mag der Metaphyſiker ſeine abſtrakten Formeln dieſen wirkenden Kräften ſubſtituiren, als ob ſie gleich den Geſtirngeiſtern der eben- falls durch metaphyſiſche Vorſtellungen genährten Aſtrologie dem Menſchengeſchlecht ſeine Bahn vorſchrieben: beide reichen nicht ein- mal an dieſe Frage ſelber heran. Das Geheimniß der Geſchichte und der Menſchheit iſt tiefſinniger als die Einen und die Anderen. Sein Schleier lüftet ſich, wo man den mit ſich ſelber beſchäftigten Willen des Menſchen, gegen ſeine Abſicht, an einem über ihn hinausreichenden Zweckzuſammenhang wirken oder wo man ſeine eingeſchränkte Intelligenz an dieſem Zuſammenhang etwas voll- bringen ſieht, deſſen dieſer bedarf, das aber von der einzelnen In- telligenz weder beabſichtigt noch vorausgeſehen war. Der blinde Fauſt
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Zweites Kapitel.
Der Begriff der Metaphyſik. Das Problem ihres Verhältniſſes
zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.
Die Betrachtung der geſchichtlichen Welt gab uns eine ſchwere
Frage auf. Die Wechſelwirkung der Individualeinheiten, ihrer
Freiheit, ja ihrer Willkür (dieſe Worte in dem Verſtande von
Namen für das Erlebniß, nicht für eine Theorie genommen), die
Verſchiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten,
endlich die aus dem Naturzuſammenhang, in welchem dies Alles
auftritt, ſtammenden Schickſale: dieſer ganze Pragmatismus der
Geſchichte bewirkt einen zuſammengeſetzten weltgeſchicht-
lichen Zweckzuſammenhang, vermittelſt der Gleichartigkeit
der Menſchennatur ſowie vermittelſt anderer Züge in ihr, welche
eine Mitarbeit des Einzelnen an einem über ihn ſelber Hinaus-
reichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies
Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Syſteme ſowie der
äußeren Organiſation der Menſchheit: in Staat und Recht, wirth-
ſchaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft.
So entſtehen Einheit, Nothwendigkeit und Geſetz in der Geſchichte
unſeres Geſchlechts. Mag der pragmatiſche Geſchichtſchreiber im
Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und
des Geſchicks oder auch einer höheren Hand ſchwelgen, mag der
Metaphyſiker ſeine abſtrakten Formeln dieſen wirkenden Kräften
ſubſtituiren, als ob ſie gleich den Geſtirngeiſtern der eben-
falls durch metaphyſiſche Vorſtellungen genährten Aſtrologie dem
Menſchengeſchlecht ſeine Bahn vorſchrieben: beide reichen nicht ein-
mal an dieſe Frage ſelber heran. Das Geheimniß der Geſchichte
und der Menſchheit iſt tiefſinniger als die Einen und die Anderen.
Sein Schleier lüftet ſich, wo man den mit ſich ſelber beſchäftigten
Willen des Menſchen, gegen ſeine Abſicht, an einem über ihn
hinausreichenden Zweckzuſammenhang wirken oder wo man ſeine
eingeſchränkte Intelligenz an dieſem Zuſammenhang etwas voll-
bringen ſieht, deſſen dieſer bedarf, das aber von der einzelnen In-
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/181>, abgerufen am 21.11.2024.
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