Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Der Begriff der Metaphysik durch Aristoteles bestimmt. Zweckzusammenhang der Geschichte der Wissenschaften bedingt war,erwiesen werden. -- Von der Erfahrung unterscheidet sich nach Aristoteles die Wissenschaft dadurch, daß sie den Grund erkennt, welcher in der wirkenden Ursache gelegen ist. Von der Einzel- wissenschaft unterscheidet sich die Weisheit, in welcher der Wissens- trieb seine in ihm selber gelegene Befriedigung findet (das Wort Weisheit hier in seinem engsten, höchsten Verstande genommen, sonach die erste Weisheit), dadurch, daß sie die ersten Gründe, welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt. Sie enthält alle Gründe für die besonderen Erfahrungskreise und sie beherrscht vermittelst dieser Gründe das gesammte Handeln. Diese erste vollkommene Weisheit ist eben die erste Philosophie. Während die Einzelwissenschaften, z. B. die Mathematik, einzelne Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenstand haben, hat diese erste Philosophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes d. h. die gemeinsamen Bestimmungen des Seienden zu ihrem Gegenstand. Und während jede Einzelwissenschaft, entsprechend dieser Aufgabe, ein bestimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen, in der Feststellung der Gründe nur bis zu einem gewissen Punkte zurückgeht welcher selber im Zusammenhang der Erkenntniß rück- wärts bedingt ist, hat die erste Philosophie die nicht weiter im Erkenntnißvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem Gegenstand. 1) Diese Begriffsbestimmung der ersten Philosophie oder Meta- 1) Diese Begriffsbestimmung der prote philosophia des Aristoteles ist vermittelst der Verbindung von insbesondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff. VI, 1 abgeleitet. In Betreff des Verhältnisses der Begriffe von sophia, prote sophia, olos sophos zu prote philosophia verweise ich auf Schweg- lers Commentar zur Metaphysik S. 14 und den Index von Bonitz s. v. sophia. 2) Thomae Aquinatis summa de veritate I. I, c. 1. Dilthey, Einleitung. 11
Der Begriff der Metaphyſik durch Ariſtoteles beſtimmt. Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſenſchaften bedingt war,erwieſen werden. — Von der Erfahrung unterſcheidet ſich nach Ariſtoteles die Wiſſenſchaft dadurch, daß ſie den Grund erkennt, welcher in der wirkenden Urſache gelegen iſt. Von der Einzel- wiſſenſchaft unterſcheidet ſich die Weisheit, in welcher der Wiſſens- trieb ſeine in ihm ſelber gelegene Befriedigung findet (das Wort Weisheit hier in ſeinem engſten, höchſten Verſtande genommen, ſonach die erſte Weisheit), dadurch, daß ſie die erſten Gründe, welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt. Sie enthält alle Gründe für die beſonderen Erfahrungskreiſe und ſie beherrſcht vermittelſt dieſer Gründe das geſammte Handeln. Dieſe erſte vollkommene Weisheit iſt eben die erſte Philoſophie. Während die Einzelwiſſenſchaften, z. B. die Mathematik, einzelne Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtand haben, hat dieſe erſte Philoſophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes d. h. die gemeinſamen Beſtimmungen des Seienden zu ihrem Gegenſtand. Und während jede Einzelwiſſenſchaft, entſprechend dieſer Aufgabe, ein beſtimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen, in der Feſtſtellung der Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte zurückgeht welcher ſelber im Zuſammenhang der Erkenntniß rück- wärts bedingt iſt, hat die erſte Philoſophie die nicht weiter im Erkenntnißvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem Gegenſtand. 1) Dieſe Begriffsbeſtimmung der erſten Philoſophie oder Meta- 1) Dieſe Begriffsbeſtimmung der πϱώτη φιλοσοφία des Ariſtoteles iſt vermittelſt der Verbindung von insbeſondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff. VI, 1 abgeleitet. In Betreff des Verhältniſſes der Begriffe von σοφία, πϱώτη σοφία, ὅλως σοφός zu πϱώτη φιλοσοφία verweiſe ich auf Schweg- lers Commentar zur Metaphyſik S. 14 und den Index von Bonitz s. v. σοφία. 2) Thomae Aquinatis summa de veritate I. I, c. 1. Dilthey, Einleitung. 11
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Der Begriff der Metaphyſik durch Ariſtoteles beſtimmt.
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erwieſen werden. — Von der Erfahrung unterſcheidet ſich nach
Ariſtoteles die Wiſſenſchaft dadurch, daß ſie den Grund erkennt,
welcher in der wirkenden Urſache gelegen iſt. Von der Einzel-
wiſſenſchaft unterſcheidet ſich die Weisheit, in welcher der Wiſſens-
trieb ſeine in ihm ſelber gelegene Befriedigung findet (das Wort
Weisheit hier in ſeinem engſten, höchſten Verſtande genommen,
ſonach die erſte Weisheit), dadurch, daß ſie die erſten Gründe,
welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt.
Sie enthält alle Gründe für die beſonderen Erfahrungskreiſe und
ſie beherrſcht vermittelſt dieſer Gründe das geſammte Handeln.
Dieſe erſte vollkommene Weisheit iſt eben die erſte Philoſophie.
Während die Einzelwiſſenſchaften, z. B. die Mathematik, einzelne
Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtand haben, hat dieſe erſte
Philoſophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes
d. h. die gemeinſamen Beſtimmungen des Seienden zu ihrem
Gegenſtand. Und während jede Einzelwiſſenſchaft, entſprechend
dieſer Aufgabe, ein beſtimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen,
in der Feſtſtellung der Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte
zurückgeht welcher ſelber im Zuſammenhang der Erkenntniß rück-
wärts bedingt iſt, hat die erſte Philoſophie die nicht weiter im
Erkenntnißvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem
Gegenſtand. 1)
Dieſe Begriffsbeſtimmung der erſten Philoſophie oder Meta-
phyſik, welche Ariſtoteles entwarf, wird von den am meiſten her-
vorragenden Metaphyſikern des Mittelalters feſtgehalten. 2) In
der neueren Philoſophie überwiegt immer mehr die am meiſten
abſtrakte unter den Formeln des Ariſtoteles, welche die Meta-
phyſik als Wiſſenſchaft der nicht weiter im Erkenntnißvorgang be-
1) Dieſe Begriffsbeſtimmung der πϱώτη φιλοσοφία des Ariſtoteles iſt
vermittelſt der Verbindung von insbeſondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff.
VI, 1 abgeleitet. In Betreff des Verhältniſſes der Begriffe von σοφία,
πϱώτη σοφία, ὅλως σοφός zu πϱώτη φιλοσοφία verweiſe ich auf Schweg-
lers Commentar zur Metaphyſik S. 14 und den Index von Bonitz s. v.
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