tiker auf dem Herzen hat. So erwuchsen in mir von selber Be- dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Welcher ist der Zusammenhang von Sätzen, der gleicherweise dem Urtheil des Geschichtsschreibers, den Schlüssen des Nationalöko- nomen, den Begriffen des Juristen zu Grunde liegt und deren Sicherheit zu bestimmen ermöglicht? Reicht derselbe in die Me- taphysik zurück? Giebt es etwa eine von metaphysischen Begriffen getragene Philosophie der Geschichte oder ein solches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo ist der feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit giebt?
Die Antworten Comte's und der Positivisten, St. Mill's und der Empiristen auf diese Fragen schienen mir die geschicht- liche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Me- thoden der Naturwissenschaften anzupassen. Die Reaktion hiergegen, deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes ist, schien mir die berechtigte Selbständigkeit der Einzelwissenschaften, die frucht- bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer sentimentalischen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die Wissenschaft sehnsüchtig zurückzurufen begehrt. Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Thatsachen des Bewußtseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten Muth, daß kein Lefer sich der Beweisführung in diesem Punkte entziehen wird. Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Be- wußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur. Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Un- möglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen, gleich- sam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge selber zu richten, als den erkenntnißtheoretischen; die moderne Wissenschaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte sich
Vorrede.
tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be- dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften. Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko- nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me- taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften Verknüpfung und Gewißheit giebt?
Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht- liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me- thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen, deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht- bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be- wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un- möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich- ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne Wiſſenſchaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte ſich
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[XVI/0019]
Vorrede.
tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be-
dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.
Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem
Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko-
nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren
Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me-
taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen
getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht?
Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt
für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften
Verknüpfung und Gewißheit giebt?
Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s
und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht-
liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me-
thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen,
deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir
die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht-
bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der
Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche
die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die
Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der
inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich
einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten
Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte
entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber
alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre
hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be-
wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer
Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un-
möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich-
ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das
Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/19>, abgerufen am 16.07.2024.
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