Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
tiker auf dem Herzen hat. So erwuchsen in mir von selber Be-
dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geisteswissenschaften.
Welcher ist der Zusammenhang von Sätzen, der gleicherweise dem
Urtheil des Geschichtsschreibers, den Schlüssen des Nationalöko-
nomen, den Begriffen des Juristen zu Grunde liegt und deren
Sicherheit zu bestimmen ermöglicht? Reicht derselbe in die Me-
taphysik zurück? Giebt es etwa eine von metaphysischen Begriffen
getragene Philosophie der Geschichte oder ein solches Naturrecht?
Wenn das aber widerlegt werden kann: wo ist der feste Rückhalt
für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften
Verknüpfung und Gewißheit giebt?

Die Antworten Comte's und der Positivisten, St. Mill's
und der Empiristen auf diese Fragen schienen mir die geschicht-
liche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Me-
thoden der Naturwissenschaften anzupassen. Die Reaktion hiergegen,
deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes ist, schien mir
die berechtigte Selbständigkeit der Einzelwissenschaften, die frucht-
bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der
Grundlegung einer sentimentalischen Stimmung zu opfern, welche
die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die
Wissenschaft sehnsüchtig zurückzurufen begehrt. Ausschließlich in der
inneren Erfahrung, in den Thatsachen des Bewußtseins fand ich
einen festen Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten
Muth, daß kein Lefer sich der Beweisführung in diesem Punkte
entziehen wird. Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber
alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre
hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Be-
wußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer
Natur. Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Un-
möglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen, gleich-
sam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erkennens hinter das
Auge selber zu richten, als den erkenntnißtheoretischen; die moderne
Wissenschaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte sich

Vorrede.
tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be-
dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.
Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem
Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko-
nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren
Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me-
taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen
getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht?
Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt
für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften
Verknüpfung und Gewißheit giebt?

Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s
und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht-
liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me-
thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen,
deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir
die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht-
bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der
Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche
die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die
Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der
inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich
einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten
Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte
entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber
alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre
hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be-
wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer
Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un-
möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich-
ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das
Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne
Wiſſenſchaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte ſich

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="XVI"/><fw place="top" type="header">Vorrede.</fw><lb/>
tiker auf dem Herzen hat. So erwuch&#x017F;en in mir von &#x017F;elber Be-<lb/>
dürfniß und Plan einer Grundlegung der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.<lb/>
Welcher i&#x017F;t der Zu&#x017F;ammenhang von Sätzen, der gleicherwei&#x017F;e dem<lb/>
Urtheil des Ge&#x017F;chichts&#x017F;chreibers, den Schlü&#x017F;&#x017F;en des Nationalöko-<lb/>
nomen, den Begriffen des Juri&#x017F;ten zu Grunde liegt und deren<lb/>
Sicherheit zu be&#x017F;timmen ermöglicht? Reicht der&#x017F;elbe in die Me-<lb/>
taphy&#x017F;ik zurück? Giebt es etwa eine von metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Begriffen<lb/>
getragene Philo&#x017F;ophie der Ge&#x017F;chichte oder ein &#x017F;olches Naturrecht?<lb/>
Wenn das aber widerlegt werden kann: wo i&#x017F;t der fe&#x017F;te Rückhalt<lb/>
für einen Zu&#x017F;ammenhang der Sätze, der den Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
Verknüpfung und Gewißheit giebt?</p><lb/>
        <p>Die Antworten Comte&#x2019;s und der Po&#x017F;itivi&#x017F;ten, St. Mill&#x2019;s<lb/>
und der Empiri&#x017F;ten auf die&#x017F;e Fragen &#x017F;chienen mir die ge&#x017F;chicht-<lb/>
liche Wirklichkeit zu ver&#x017F;tümmeln, um &#x017F;ie den Begriffen und Me-<lb/>
thoden der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften anzupa&#x017F;&#x017F;en. Die Reaktion hiergegen,<lb/>
deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes i&#x017F;t, &#x017F;chien mir<lb/>
die berechtigte Selb&#x017F;tändigkeit der Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, die frucht-<lb/>
bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der<lb/>
Grundlegung einer &#x017F;entimentali&#x017F;chen Stimmung zu opfern, welche<lb/>
die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ehn&#x017F;üchtig zurückzurufen begehrt. Aus&#x017F;chließlich in der<lb/>
inneren Erfahrung, in den That&#x017F;achen des Bewußt&#x017F;eins fand ich<lb/>
einen fe&#x017F;ten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten<lb/>
Muth, daß kein Lefer &#x017F;ich der Beweisführung in die&#x017F;em Punkte<lb/>
entziehen wird. Alle Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t Erfahrungswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, aber<lb/>
alle Erfahrung hat ihren ur&#x017F;prünglichen Zu&#x017F;ammenhang und ihre<lb/>
hierdurch be&#x017F;timmte Geltung in den Bedingungen un&#x017F;eres Be-<lb/>
wußt&#x017F;eins, innerhalb de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie auftritt, in dem Ganzen un&#x017F;erer<lb/>
Natur. Wir bezeichnen die&#x017F;en Standpunkt, der folgerecht die Un-<lb/>
möglichkeit ein&#x017F;ieht, hinter die&#x017F;e Bedingungen zurückzugehen, gleich-<lb/>
&#x017F;am ohne Auge zu &#x017F;ehen oder den Blick des Erkennens hinter das<lb/>
Auge &#x017F;elber zu richten, als den erkenntnißtheoreti&#x017F;chen; die moderne<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte &#x017F;ich<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XVI/0019] Vorrede. tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be- dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften. Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko- nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me- taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften Verknüpfung und Gewißheit giebt? Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht- liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me- thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen, deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht- bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be- wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un- möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich- ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne Wiſſenſchaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/19
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/19>, abgerufen am 03.12.2024.