Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Erster Abschnitt. heit, ungesondert von den kleinasiatischen Griechen, in intimerWechselwirkung mit den umgebenden Kulturländern, sechs Jahr- hunderte v. Chr. im Uebergang zu dem Stadium der Wissenschaft vom Kosmos sowie der Metaphysik an. Dieselben entstanden also in Europa in einer feststellbaren, ja in ihrem Charakter der For- schung zugänglichen Zeit, nachdem das mythische Vorstellen eine unabsehbare Zeit hindurch, welche sich in gänzliches Dunkel ver- liert, geherrscht hatte. Diese lange und dunkle Epoche empfängt nur in ihrem letzten Stadium ein direktes Licht durch erhaltene dichterische Werke und durch Ueberlieferungen, welche eine theil- weise Rekonstruktion der verlorenen gestatten. Was in ihr diesen Denkmälern vorausliegt, ist einer vergleichenden Kulturgeschichte allein zugänglich. Und zwar kann diese wol für die indogermanischen Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage, der steigenden äußeren Civilisation, ja vielleicht der Entwicklung der Vorstellungen erschließen; sie kann an der Hand der ver- gleichenden Mythologie die Metamorphosen von indogermanischen Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organisation und des Rechtes errathen. Aber das Innere der Menschen selber in jenem Zeitraum, welchen man im Unterschied von dem prähistorischen den prälitterarischen nennen könnte, d. h. einem Zeitraum, in welchem dichterische Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht sich einer histo- rischen Wiederherstellung. Wenn Lubbock zu erschließen versucht, daß alle Völker ein Stadium des Atheismus d. h. der vollständigen Ab- wesenheit jeder Art von religiöser Vorstellung durchlaufen haben, 1) oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Todten alle Reli- gion erwachsen sei 2): so sind dies die Orgien eines die Grenzen des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten der Geschichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem andern Grenzpunkt der Erfahrung. Wir schränken uns also zu- nächst auf den Zeitraum ein, innerhalb dessen litterarische Denkmale das Innere des Menschen erblicken lassen. 1) Lubbock, Entstehung der Civilisation. Deutsche Ausg. 1875. S. 172 vergl. 170. 2) Spencer, System der Philosophie, Bd. VI, zusammengefaßt S. 504 ff.
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. heit, ungeſondert von den kleinaſiatiſchen Griechen, in intimerWechſelwirkung mit den umgebenden Kulturländern, ſechs Jahr- hunderte v. Chr. im Uebergang zu dem Stadium der Wiſſenſchaft vom Kosmos ſowie der Metaphyſik an. Dieſelben entſtanden alſo in Europa in einer feſtſtellbaren, ja in ihrem Charakter der For- ſchung zugänglichen Zeit, nachdem das mythiſche Vorſtellen eine unabſehbare Zeit hindurch, welche ſich in gänzliches Dunkel ver- liert, geherrſcht hatte. Dieſe lange und dunkle Epoche empfängt nur in ihrem letzten Stadium ein direktes Licht durch erhaltene dichteriſche Werke und durch Ueberlieferungen, welche eine theil- weiſe Rekonſtruktion der verlorenen geſtatten. Was in ihr dieſen Denkmälern vorausliegt, iſt einer vergleichenden Kulturgeſchichte allein zugänglich. Und zwar kann dieſe wol für die indogermaniſchen Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage, der ſteigenden äußeren Civiliſation, ja vielleicht der Entwicklung der Vorſtellungen erſchließen; ſie kann an der Hand der ver- gleichenden Mythologie die Metamorphoſen von indogermaniſchen Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organiſation und des Rechtes errathen. Aber das Innere der Menſchen ſelber in jenem Zeitraum, welchen man im Unterſchied von dem prähiſtoriſchen den prälitterariſchen nennen könnte, d. h. einem Zeitraum, in welchem dichteriſche Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht ſich einer hiſto- riſchen Wiederherſtellung. Wenn Lubbock zu erſchließen verſucht, daß alle Völker ein Stadium des Atheismus d. h. der vollſtändigen Ab- weſenheit jeder Art von religiöſer Vorſtellung durchlaufen haben, 1) oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Todten alle Reli- gion erwachſen ſei 2): ſo ſind dies die Orgien eines die Grenzen des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten der Geſchichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem andern Grenzpunkt der Erfahrung. Wir ſchränken uns alſo zu- nächſt auf den Zeitraum ein, innerhalb deſſen litterariſche Denkmale das Innere des Menſchen erblicken laſſen. 1) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation. Deutſche Ausg. 1875. S. 172 vergl. 170. 2) Spencer, Syſtem der Philoſophie, Bd. VI, zuſammengefaßt S. 504 ff.
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
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hunderte v. Chr. im Uebergang zu dem Stadium der Wiſſenſchaft
vom Kosmos ſowie der Metaphyſik an. Dieſelben entſtanden alſo
in Europa in einer feſtſtellbaren, ja in ihrem Charakter der For-
ſchung zugänglichen Zeit, nachdem das mythiſche Vorſtellen eine
unabſehbare Zeit hindurch, welche ſich in gänzliches Dunkel ver-
liert, geherrſcht hatte. Dieſe lange und dunkle Epoche empfängt
nur in ihrem letzten Stadium ein direktes Licht durch erhaltene
dichteriſche Werke und durch Ueberlieferungen, welche eine theil-
weiſe Rekonſtruktion der verlorenen geſtatten. Was in ihr dieſen
Denkmälern vorausliegt, iſt einer vergleichenden Kulturgeſchichte allein
zugänglich. Und zwar kann dieſe wol für die indogermaniſchen
Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage,
der ſteigenden äußeren Civiliſation, ja vielleicht der Entwicklung
der Vorſtellungen erſchließen; ſie kann an der Hand der ver-
gleichenden Mythologie die Metamorphoſen von indogermaniſchen
Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organiſation und
des Rechtes errathen. Aber das Innere der Menſchen ſelber in jenem
Zeitraum, welchen man im Unterſchied von dem prähiſtoriſchen den
prälitterariſchen nennen könnte, d. h. einem Zeitraum, in welchem
dichteriſche Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht ſich einer hiſto-
riſchen Wiederherſtellung. Wenn Lubbock zu erſchließen verſucht, daß
alle Völker ein Stadium des Atheismus d. h. der vollſtändigen Ab-
weſenheit jeder Art von religiöſer Vorſtellung durchlaufen haben, 1)
oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Todten alle Reli-
gion erwachſen ſei 2): ſo ſind dies die Orgien eines die Grenzen
des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten
der Geſchichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem
andern Grenzpunkt der Erfahrung. Wir ſchränken uns alſo zu-
nächſt auf den Zeitraum ein, innerhalb deſſen litterariſche Denkmale
das Innere des Menſchen erblicken laſſen.
1) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation. Deutſche Ausg. 1875. S. 172
vergl. 170.
2) Spencer, Syſtem der Philoſophie, Bd. VI, zuſammengefaßt S. 504 ff.
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