von denselben als ein Thatbestand viel umfassenderer Verbreitung abgesondert werden. Und zwar findet sich nicht nur in dem- selben Zeitalter, sondern in demselben Kopf, ohne Widerspruch, religiöses Leben, mythisches Vorstellen und metaphysisches Denken vereinigt; dies war bei vielen griechischen Denkern der Fall; mit grandiosem Ernst ringen ein Heraklit, Parmenides und Plato, die Mythensprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu gestalten. Es findet sich in demselben Kopf mit der Metaphysik auch Theo- logie und religiöses Erleben verbunden, dies war bei vielen mittel- alterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieselbe Thatsache zugleich mythisch vorgestellt und gedankenmäßig erklärt werden. Diese Verhältnisse sondern noch deutlicher religiöses Leben von mythischem Vorstellen.
Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Dar- legung würde eine Bestimmung des Begriffs von religiösem Leben uns leicht dem Verdacht einer Konstruktion aussetzen: es genügt, den vorhandenen Thatbestand desselben zu umschreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandensein von Erlebniß, von innerer Erfahrung überhaupt kann nicht geleugnet werden. Denn dieses unmittelbare Wissen ist der Erfahrungsinhalt, dessen Analysis alsdann Kenntniß und Wissenschaft der geistigen Welt ist. Diese Wissenschaft bestünde nicht, wenn inneres Er- lebniß, innere Erfahrung nicht vorhanden wären. Nun sind Er- fahrungen solcher Art die Freiheit des Menschen, Gewissen und Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende Gegensatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergäng- lichen und Ewigen sowie die Sehnsucht des Menschen nach dem letzteren. Und zwar sind diese inneren Erfahrungen Bestandtheile des religiösen Lebens. Dasselbe umfaßt aber zugleich das Bewußt- sein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat den Ursprung dieses Bewußtseins im Erlebniß aufgezeigt. Neuerdings hat Max Müller dieser Theorie eine festere empirische Grundlage zu geben versucht. "Wenn es uns zu kühn klingt, zu sagen, daß der Mensch wirklich das Unsichtbare sieht, so sagen wir, daß er den Druck des Unsichtbaren merkt, und dieses Unsichtbare ist eben
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
von denſelben als ein Thatbeſtand viel umfaſſenderer Verbreitung abgeſondert werden. Und zwar findet ſich nicht nur in dem- ſelben Zeitalter, ſondern in demſelben Kopf, ohne Widerſpruch, religiöſes Leben, mythiſches Vorſtellen und metaphyſiſches Denken vereinigt; dies war bei vielen griechiſchen Denkern der Fall; mit grandioſem Ernſt ringen ein Heraklit, Parmenides und Plato, die Mythenſprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu geſtalten. Es findet ſich in demſelben Kopf mit der Metaphyſik auch Theo- logie und religiöſes Erleben verbunden, dies war bei vielen mittel- alterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieſelbe Thatſache zugleich mythiſch vorgeſtellt und gedankenmäßig erklärt werden. Dieſe Verhältniſſe ſondern noch deutlicher religiöſes Leben von mythiſchem Vorſtellen.
Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Dar- legung würde eine Beſtimmung des Begriffs von religiöſem Leben uns leicht dem Verdacht einer Konſtruktion ausſetzen: es genügt, den vorhandenen Thatbeſtand deſſelben zu umſchreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandenſein von Erlebniß, von innerer Erfahrung überhaupt kann nicht geleugnet werden. Denn dieſes unmittelbare Wiſſen iſt der Erfahrungsinhalt, deſſen Analyſis alsdann Kenntniß und Wiſſenſchaft der geiſtigen Welt iſt. Dieſe Wiſſenſchaft beſtünde nicht, wenn inneres Er- lebniß, innere Erfahrung nicht vorhanden wären. Nun ſind Er- fahrungen ſolcher Art die Freiheit des Menſchen, Gewiſſen und Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende Gegenſatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergäng- lichen und Ewigen ſowie die Sehnſucht des Menſchen nach dem letzteren. Und zwar ſind dieſe inneren Erfahrungen Beſtandtheile des religiöſen Lebens. Daſſelbe umfaßt aber zugleich das Bewußt- ſein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat den Urſprung dieſes Bewußtſeins im Erlebniß aufgezeigt. Neuerdings hat Max Müller dieſer Theorie eine feſtere empiriſche Grundlage zu geben verſucht. „Wenn es uns zu kühn klingt, zu ſagen, daß der Menſch wirklich das Unſichtbare ſieht, ſo ſagen wir, daß er den Druck des Unſichtbaren merkt, und dieſes Unſichtbare iſt eben
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
von denſelben als ein Thatbeſtand viel umfaſſenderer Verbreitung
abgeſondert werden. Und zwar findet ſich nicht nur in dem-
ſelben Zeitalter, ſondern in demſelben Kopf, ohne Widerſpruch,
religiöſes Leben, mythiſches Vorſtellen und metaphyſiſches
Denken vereinigt; dies war bei vielen griechiſchen Denkern der
Fall; mit grandioſem Ernſt ringen ein Heraklit, Parmenides und
Plato, die Mythenſprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu geſtalten.
Es findet ſich in demſelben Kopf mit der Metaphyſik auch Theo-
logie und religiöſes Erleben verbunden, dies war bei vielen mittel-
alterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieſelbe Thatſache
zugleich mythiſch vorgeſtellt und gedankenmäßig erklärt werden.
Dieſe Verhältniſſe ſondern noch deutlicher religiöſes Leben von
mythiſchem Vorſtellen.
Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Dar-
legung würde eine Beſtimmung des Begriffs von religiöſem
Leben uns leicht dem Verdacht einer Konſtruktion ausſetzen: es
genügt, den vorhandenen Thatbeſtand deſſelben zu
umſchreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandenſein von
Erlebniß, von innerer Erfahrung überhaupt kann nicht geleugnet
werden. Denn dieſes unmittelbare Wiſſen iſt der Erfahrungsinhalt,
deſſen Analyſis alsdann Kenntniß und Wiſſenſchaft der geiſtigen
Welt iſt. Dieſe Wiſſenſchaft beſtünde nicht, wenn inneres Er-
lebniß, innere Erfahrung nicht vorhanden wären. Nun ſind Er-
fahrungen ſolcher Art die Freiheit des Menſchen, Gewiſſen und
Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende
Gegenſatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergäng-
lichen und Ewigen ſowie die Sehnſucht des Menſchen nach dem
letzteren. Und zwar ſind dieſe inneren Erfahrungen Beſtandtheile
des religiöſen Lebens. Daſſelbe umfaßt aber zugleich das Bewußt-
ſein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat
den Urſprung dieſes Bewußtſeins im Erlebniß aufgezeigt. Neuerdings
hat Max Müller dieſer Theorie eine feſtere empiriſche Grundlage
zu geben verſucht. „Wenn es uns zu kühn klingt, zu ſagen, daß
der Menſch wirklich das Unſichtbare ſieht, ſo ſagen wir, daß er
den Druck des Unſichtbaren merkt, und dieſes Unſichtbare iſt eben
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/193>, abgerufen am 16.02.2025.
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