deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortschreitenden Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der Mathematik und der Astronomie. In dieser Schule entwickelte sich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöste Betrachtung der Verhältnisse von Zahlen, von Raumgebilden, sonach reine mathematische Wissenschaft. Ja ihre Untersuchungen hatten bereits die Beziehungen zwischen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen- stande, so entstand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge- biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war astronomisch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge- staltende, welches ihnen im schönsten griechischen Geiste das Gött- liche ist; indem es das Grenzenlose an sich zieht, entsteht die zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.
Alle diese Erklärungen des Weltganzen, ob sie gleich als Er- klärungen an der allmäligen Auflösung des mythischen Vorstellens arbeiteten, waren noch mit einem sehr erheblichen Bestand- theil von mythischem Glauben vermischt. Das Prinzip, aus welchem diese ersten Forscher ableiteten, hatte noch viele Eigen- schaften des mythischen Zusammenhangs. Es enthielt in sich eine den mythischen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um- wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichsam die Fußspuren der Götter in seinem Wirken. So war es auch mit einem von diesen Physikern festgehaltenen mythischen Götterglauben in für uns kaum sichtbaren Wurzeln verschlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das Weltall von Gottheiten erfüllt sei, darf nicht in einen modernen Pantheismus umgedeutet werden. Der mythische Glaube des Anaxi- mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht ihres Sonderdaseins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras so sicher zu- geschrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von ihm gestiftete Verband hing am Apollokultus und an religiösen Riten mit konservativer Festigkeit. Vorstellungen des Vollkommnen bestimmen das kosmische Bild der unteritalischen Schulen. Und zwar tritt hier der für den griechischen Geist so bezeichnende Gedanke hervor, daß das Begrenzte das Göttliche sei -- wogegen man den
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen- ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge- biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge- ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött- liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.
Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er- klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand- theil von mythiſchem Glauben vermiſcht. Das Prinzip, aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen- ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um- wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi- mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu- geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden
Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der
Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte
ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung
der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine
mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits
die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen-
ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge-
biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war
aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge-
ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött-
liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die
zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.
Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er-
klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens
arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand-
theil von mythiſchem Glauben vermiſcht. Das Prinzip,
aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen-
ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den
mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um-
wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in
ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern
feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren
Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das
Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen
Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi-
mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht
ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung
der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu-
geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von
ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen
Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen
beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar
tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke
hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/207>, abgerufen am 16.07.2024.
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