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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Astronomie.
ihr entgegenwirkenden Kraft von außerordentlicher Stärke, welche
den Kreisumschwung dieser schweren und mächtigen Körper her-
vorgebracht hat und erhält. An den Fall des genannten großen
Meteorsteins knüpfte Anaxagoras die Erklärung: die ganze Stern-
welt bestehe aus Steinen: würde der gewaltige Umschwung nach-
lassen, dann müßte sie abwärts stürzen 1). Die Ueberlieferung
vergleicht, ohne dem Anaxagoras diesen Vergleich zuzuschreiben,
dieses dem Umschwung der Gestirne zu Grunde liegende Verhältniß
zwischen der Schwerkraft, welche die Weltkörper abwärts zieht,
und der den Umschwung hervorbringenden Kraft, welche ihren
Fall hindert, mit dem, vermöge dessen der Stein nicht aus der
Schleuder tritt, das Wasser in einer Schale beim Umschwung
derselben, wenn dieser schneller als die Bewegung des Wassers
nach unten ist, nicht ausgegossen wird 2).

Mit diesem Schluß verknüpfte sich nun an dem jetzt erreichten
Punkte ein zweiter, dessen Glieder vielleicht noch auf überzeugende
Weise ergänzt werden können. Vermöge desselben bestimmte er diese
Kraft, welche die Drehungen der Gestirne im Weltraum hervorbringe,
als Eine beständig und zweckmäßig wirkende, welche von Außen, von
der Weltmaterie ganz getrennt, den Umlauf der Gestirne hervorrufe
und erhalte. So tritt das Weltprinzip der Vernunft (des nous),
getragen von einem astronomischen Raisonnement, in die Geschichte.

Die Drehung nämlich, welche Anaxagoras auf die der Schwer-
kraft entgegenwirkende Kraft zurückführt, wird von ihm mit der
Drehung (perikhoresis) ausdrücklich in eins gesetzt, "in welcher
sich Gestirne, Sonne und Mond, Luft und Aether gegenwärtig um-
drehen" 3). -- Diese letztere ist natürlich die scheinbare, in welcher
sich der ganze Himmel mit allen seinen Gestirnen täglich einmal

1) Diogenes a. a. O.
2) Humboldt, Kosmos (erste Ausg.) II, 348. 501 vgl. I, 139 u. a.
a. O. nach Jacobis handschriftlichen Aufzeichnungen über das mathematische
Wissen der Griechen, welche Aufzeichnungen Humboldt erwähnt, die aber
verloren sind oder irgendwo verborgen ruhen. Plut. de facie in orbe Lunae
c. 6. p. 923 c.
Ideler, Meteorologia Graec. 1832 p. 6.
3) Simplic. in phys. f. 33 v. 35 r. (Mullach I, 249 fr. 6).

Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.
ihr entgegenwirkenden Kraft von außerordentlicher Stärke, welche
den Kreisumſchwung dieſer ſchweren und mächtigen Körper her-
vorgebracht hat und erhält. An den Fall des genannten großen
Meteorſteins knüpfte Anaxagoras die Erklärung: die ganze Stern-
welt beſtehe aus Steinen: würde der gewaltige Umſchwung nach-
laſſen, dann müßte ſie abwärts ſtürzen 1). Die Ueberlieferung
vergleicht, ohne dem Anaxagoras dieſen Vergleich zuzuſchreiben,
dieſes dem Umſchwung der Geſtirne zu Grunde liegende Verhältniß
zwiſchen der Schwerkraft, welche die Weltkörper abwärts zieht,
und der den Umſchwung hervorbringenden Kraft, welche ihren
Fall hindert, mit dem, vermöge deſſen der Stein nicht aus der
Schleuder tritt, das Waſſer in einer Schale beim Umſchwung
derſelben, wenn dieſer ſchneller als die Bewegung des Waſſers
nach unten iſt, nicht ausgegoſſen wird 2).

Mit dieſem Schluß verknüpfte ſich nun an dem jetzt erreichten
Punkte ein zweiter, deſſen Glieder vielleicht noch auf überzeugende
Weiſe ergänzt werden können. Vermöge deſſelben beſtimmte er dieſe
Kraft, welche die Drehungen der Geſtirne im Weltraum hervorbringe,
als Eine beſtändig und zweckmäßig wirkende, welche von Außen, von
der Weltmaterie ganz getrennt, den Umlauf der Geſtirne hervorrufe
und erhalte. So tritt das Weltprinzip der Vernunft (des νοῦς),
getragen von einem aſtronomiſchen Raiſonnement, in die Geſchichte.

Die Drehung nämlich, welche Anaxagoras auf die der Schwer-
kraft entgegenwirkende Kraft zurückführt, wird von ihm mit der
Drehung (πεϱιχώϱησις) ausdrücklich in eins geſetzt, „in welcher
ſich Geſtirne, Sonne und Mond, Luft und Aether gegenwärtig um-
drehen“ 3). — Dieſe letztere iſt natürlich die ſcheinbare, in welcher
ſich der ganze Himmel mit allen ſeinen Geſtirnen täglich einmal

1) Diogenes a. a. O.
2) Humboldt, Kosmos (erſte Ausg.) II, 348. 501 vgl. I, 139 u. a.
a. O. nach Jacobis handſchriftlichen Aufzeichnungen über das mathematiſche
Wiſſen der Griechen, welche Aufzeichnungen Humboldt erwähnt, die aber
verloren ſind oder irgendwo verborgen ruhen. Plut. de facie in orbe Lunae
c. 6. p. 923 c.
Ideler, Meteorologia Graec. 1832 p. 6.
3) Simplic. in phys. f. 33 v. 35 r. (Mullach I, 249 fr. 6).
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[205/0228] Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie. ihr entgegenwirkenden Kraft von außerordentlicher Stärke, welche den Kreisumſchwung dieſer ſchweren und mächtigen Körper her- vorgebracht hat und erhält. An den Fall des genannten großen Meteorſteins knüpfte Anaxagoras die Erklärung: die ganze Stern- welt beſtehe aus Steinen: würde der gewaltige Umſchwung nach- laſſen, dann müßte ſie abwärts ſtürzen 1). Die Ueberlieferung vergleicht, ohne dem Anaxagoras dieſen Vergleich zuzuſchreiben, dieſes dem Umſchwung der Geſtirne zu Grunde liegende Verhältniß zwiſchen der Schwerkraft, welche die Weltkörper abwärts zieht, und der den Umſchwung hervorbringenden Kraft, welche ihren Fall hindert, mit dem, vermöge deſſen der Stein nicht aus der Schleuder tritt, das Waſſer in einer Schale beim Umſchwung derſelben, wenn dieſer ſchneller als die Bewegung des Waſſers nach unten iſt, nicht ausgegoſſen wird 2). Mit dieſem Schluß verknüpfte ſich nun an dem jetzt erreichten Punkte ein zweiter, deſſen Glieder vielleicht noch auf überzeugende Weiſe ergänzt werden können. Vermöge deſſelben beſtimmte er dieſe Kraft, welche die Drehungen der Geſtirne im Weltraum hervorbringe, als Eine beſtändig und zweckmäßig wirkende, welche von Außen, von der Weltmaterie ganz getrennt, den Umlauf der Geſtirne hervorrufe und erhalte. So tritt das Weltprinzip der Vernunft (des νοῦς), getragen von einem aſtronomiſchen Raiſonnement, in die Geſchichte. Die Drehung nämlich, welche Anaxagoras auf die der Schwer- kraft entgegenwirkende Kraft zurückführt, wird von ihm mit der Drehung (πεϱιχώϱησις) ausdrücklich in eins geſetzt, „in welcher ſich Geſtirne, Sonne und Mond, Luft und Aether gegenwärtig um- drehen“ 3). — Dieſe letztere iſt natürlich die ſcheinbare, in welcher ſich der ganze Himmel mit allen ſeinen Geſtirnen täglich einmal 1) Diogenes a. a. O. 2) Humboldt, Kosmos (erſte Ausg.) II, 348. 501 vgl. I, 139 u. a. a. O. nach Jacobis handſchriftlichen Aufzeichnungen über das mathematiſche Wiſſen der Griechen, welche Aufzeichnungen Humboldt erwähnt, die aber verloren ſind oder irgendwo verborgen ruhen. Plut. de facie in orbe Lunae c. 6. p. 923 c. Ideler, Meteorologia Graec. 1832 p. 6. 3) Simplic. in phys. f. 33 v. 35 r. (Mullach I, 249 fr. 6).

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/228>, abgerufen am 21.11.2024.