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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
vorstellung dem Ruhezustand zustrebt. Von diesem Sinkenden
reißt der Umschwung Theile ab, welche nun als Gestirne rotiren.

Nun tritt aber erst die Lebensfrage dieser Kosmogonie hervor.
Anaxagoras hatte vor Allem die Aufgabe zu lösen, die ihm be-
kannten Bewegungen am Himmel zu erklären, welche sich der täg-
lichen allgemeinen Drehung nicht unterordnen lassen: so die
jährliche Bewegung der Sonne, die Mondbahn, die so unregel-
mäßigen scheinbaren Bewegungen der anderen ihm bekannten
Wandelsterne. Er erklärte diese Bewegungen mechanisch, indem
er in dem Gegendruck der durch den Umschwung dieser Gestirne zu-
sammengepreßten Luft eine dritte kosmische Ursache einführte 1).

Hier war der Punkt, welcher diese groß gedachte Kosmogonie
des Anaxagoras schon im Zeitalter Platos nicht mehr möglich
erscheinen ließ. Die genauere Kenntniß der scheinbaren Bahnen
der fünf mit bloßem Auge sichtbaren Planeten, deren Zahl in
Platos Zeit schon bestimmt ist, ließ die Erklärung aus dem Gegen-
druck der Luft als ganz unzureichend erscheinen. Und so erfuhr
die monotheistische Metaphysik des Anaxagoras eine bemerkens-
werthe Umgestaltung.

Die eine Richtung schied von der Eigenbewegung der Planeten
die gemeinsame tägliche Bewegung des ganzen Himmels in der
Ebene des Aequators als eine scheinbare aus und führte dieselbe
auf eine tägliche Bewegung der Erde zurück. In Folge hiervon
brauchte sie nicht diese Eigenbewegungen der Planeten einer ge-
meinsamen Drehung einzuordnen. Die andere Richtung ersann
einen ungeheuren Mechanismus, vermittelst dessen innerhalb der
gemeinsamen Bewegung des Himmels die zusammengesetzte Be-

1) Dies ist von Sonne und Mond überliefert. Es darf aber wol
angenommen werden, daß er auch die anderen von ihm wahrgenommenen
unregelmäßigen Bewegungen am Himmel auf dieselbe Ursache zurückführte,
welche er in Bezug auf Sonne und Mond annahm. Planeten als ihren
Ort wechselnde Gestirne unterschieden er und seine Zeitgenossen, Arist.
meteorol. I, 6 p. 342 b 27, und aus ihrem Zusammentreten erklärte er die
Kometen. Aber noch Demokrit kannte ihre Zahl und ihre Bewegungen
nicht genauer, Seneca nat. quaest. 7, 3. Vgl. Schaubach Anax. fr.
p. 166
f.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
vorſtellung dem Ruhezuſtand zuſtrebt. Von dieſem Sinkenden
reißt der Umſchwung Theile ab, welche nun als Geſtirne rotiren.

Nun tritt aber erſt die Lebensfrage dieſer Kosmogonie hervor.
Anaxagoras hatte vor Allem die Aufgabe zu löſen, die ihm be-
kannten Bewegungen am Himmel zu erklären, welche ſich der täg-
lichen allgemeinen Drehung nicht unterordnen laſſen: ſo die
jährliche Bewegung der Sonne, die Mondbahn, die ſo unregel-
mäßigen ſcheinbaren Bewegungen der anderen ihm bekannten
Wandelſterne. Er erklärte dieſe Bewegungen mechaniſch, indem
er in dem Gegendruck der durch den Umſchwung dieſer Geſtirne zu-
ſammengepreßten Luft eine dritte kosmiſche Urſache einführte 1).

Hier war der Punkt, welcher dieſe groß gedachte Kosmogonie
des Anaxagoras ſchon im Zeitalter Platos nicht mehr möglich
erſcheinen ließ. Die genauere Kenntniß der ſcheinbaren Bahnen
der fünf mit bloßem Auge ſichtbaren Planeten, deren Zahl in
Platos Zeit ſchon beſtimmt iſt, ließ die Erklärung aus dem Gegen-
druck der Luft als ganz unzureichend erſcheinen. Und ſo erfuhr
die monotheiſtiſche Metaphyſik des Anaxagoras eine bemerkens-
werthe Umgeſtaltung.

Die eine Richtung ſchied von der Eigenbewegung der Planeten
die gemeinſame tägliche Bewegung des ganzen Himmels in der
Ebene des Aequators als eine ſcheinbare aus und führte dieſelbe
auf eine tägliche Bewegung der Erde zurück. In Folge hiervon
brauchte ſie nicht dieſe Eigenbewegungen der Planeten einer ge-
meinſamen Drehung einzuordnen. Die andere Richtung erſann
einen ungeheuren Mechanismus, vermittelſt deſſen innerhalb der
gemeinſamen Bewegung des Himmels die zuſammengeſetzte Be-

1) Dies iſt von Sonne und Mond überliefert. Es darf aber wol
angenommen werden, daß er auch die anderen von ihm wahrgenommenen
unregelmäßigen Bewegungen am Himmel auf dieſelbe Urſache zurückführte,
welche er in Bezug auf Sonne und Mond annahm. Planeten als ihren
Ort wechſelnde Geſtirne unterſchieden er und ſeine Zeitgenoſſen, Ariſt.
meteorol. I, 6 p. 342 b 27, und aus ihrem Zuſammentreten erklärte er die
Kometen. Aber noch Demokrit kannte ihre Zahl und ihre Bewegungen
nicht genauer, Seneca nat. quaest. 7, 3. Vgl. Schaubach Anax. fr.
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f.
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[210/0233] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. vorſtellung dem Ruhezuſtand zuſtrebt. Von dieſem Sinkenden reißt der Umſchwung Theile ab, welche nun als Geſtirne rotiren. Nun tritt aber erſt die Lebensfrage dieſer Kosmogonie hervor. Anaxagoras hatte vor Allem die Aufgabe zu löſen, die ihm be- kannten Bewegungen am Himmel zu erklären, welche ſich der täg- lichen allgemeinen Drehung nicht unterordnen laſſen: ſo die jährliche Bewegung der Sonne, die Mondbahn, die ſo unregel- mäßigen ſcheinbaren Bewegungen der anderen ihm bekannten Wandelſterne. Er erklärte dieſe Bewegungen mechaniſch, indem er in dem Gegendruck der durch den Umſchwung dieſer Geſtirne zu- ſammengepreßten Luft eine dritte kosmiſche Urſache einführte 1). Hier war der Punkt, welcher dieſe groß gedachte Kosmogonie des Anaxagoras ſchon im Zeitalter Platos nicht mehr möglich erſcheinen ließ. Die genauere Kenntniß der ſcheinbaren Bahnen der fünf mit bloßem Auge ſichtbaren Planeten, deren Zahl in Platos Zeit ſchon beſtimmt iſt, ließ die Erklärung aus dem Gegen- druck der Luft als ganz unzureichend erſcheinen. Und ſo erfuhr die monotheiſtiſche Metaphyſik des Anaxagoras eine bemerkens- werthe Umgeſtaltung. Die eine Richtung ſchied von der Eigenbewegung der Planeten die gemeinſame tägliche Bewegung des ganzen Himmels in der Ebene des Aequators als eine ſcheinbare aus und führte dieſelbe auf eine tägliche Bewegung der Erde zurück. In Folge hiervon brauchte ſie nicht dieſe Eigenbewegungen der Planeten einer ge- meinſamen Drehung einzuordnen. Die andere Richtung erſann einen ungeheuren Mechanismus, vermittelſt deſſen innerhalb der gemeinſamen Bewegung des Himmels die zuſammengeſetzte Be- 1) Dies iſt von Sonne und Mond überliefert. Es darf aber wol angenommen werden, daß er auch die anderen von ihm wahrgenommenen unregelmäßigen Bewegungen am Himmel auf dieſelbe Urſache zurückführte, welche er in Bezug auf Sonne und Mond annahm. Planeten als ihren Ort wechſelnde Geſtirne unterſchieden er und ſeine Zeitgenoſſen, Ariſt. meteorol. I, 6 p. 342 b 27, und aus ihrem Zuſammentreten erklärte er die Kometen. Aber noch Demokrit kannte ihre Zahl und ihre Bewegungen nicht genauer, Seneca nat. quaest. 7, 3. Vgl. Schaubach Anax. fr. p. 166 f.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/233>, abgerufen am 24.11.2024.