krit's in der Ausbildung sorgfältiger beschreibender Wissenschaft, ja er verschmäht hier sogar nicht, den Thatbestand durch Vorstellung eines Verhältnisses von Zweckmäßigkeit zwischen den Organen des thierischen Körpers und den Aufgaben seines Lebens verständlich zu machen.
Hieraus verstehen wir, was sich nun ereignete. Die mono- theistische Metaphysik Europas hat nicht nur die pantheistischen Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fort- wirkten, sondern auch die mechanische Welterklärung als unge- nügende Konstruktionen zur Seite geschoben. Jedoch hat sie nicht vermocht, dieselben zu vernichten. Die mechanische Weltansicht sprach eine dem Verstande entsprechende Möglichkeit aus und blieb aufrecht, mit starkem Bewußtsein ihrer im Rechnen mit den sinnlichen Thatsachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges brach freilich erst an, als die experimentellen Methoden sich ihrer bemächtigten. Die pantheistische Weltansicht entsprach einer Gemüthslage, welche bald in der stoischen Schule ihre Erneuerung bewirkte. Aber stärker als diese beiden metaphysischen Grundansichten war der skeptische Geist. Er hatte in der eleatischen Schule Widersprüche in den Grundvorstellungen der Physik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metapysik auf- gelöst werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklit's vermittelst des Widerspruchs im Werden einen Tummelplatz des Skepticismus gemacht. Dieser skeptische Geist war mit jedem neuen metaphysischen Versuche gewachsen und über- fluthete nun die ganze griechische Wissenschaft. Er wurde be- günstigt durch die Veränderungen in dem sozialen und politischen Leben von Athen, das seit Anaxagoras die griechische Wissenschaft centralisirte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche die Beschäftigung mit geistigen Thatsachen, mit Sprache, Redekunst, Staat in den Vordergrund rückte. Der Wissenschaft vom Kosmos trat unter diesen Umständen der Anfang einer Erkenntnißtheorie gegenüber.
Blicken wir voraus. Welches wird unter diesen Umständen das Schicksal der monotheistischen Weltansicht sein?
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
krit’s in der Ausbildung ſorgfältiger beſchreibender Wiſſenſchaft, ja er verſchmäht hier ſogar nicht, den Thatbeſtand durch Vorſtellung eines Verhältniſſes von Zweckmäßigkeit zwiſchen den Organen des thieriſchen Körpers und den Aufgaben ſeines Lebens verſtändlich zu machen.
Hieraus verſtehen wir, was ſich nun ereignete. Die mono- theiſtiſche Metaphyſik Europas hat nicht nur die pantheiſtiſchen Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fort- wirkten, ſondern auch die mechaniſche Welterklärung als unge- nügende Konſtruktionen zur Seite geſchoben. Jedoch hat ſie nicht vermocht, dieſelben zu vernichten. Die mechaniſche Weltanſicht ſprach eine dem Verſtande entſprechende Möglichkeit aus und blieb aufrecht, mit ſtarkem Bewußtſein ihrer im Rechnen mit den ſinnlichen Thatſachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges brach freilich erſt an, als die experimentellen Methoden ſich ihrer bemächtigten. Die pantheiſtiſche Weltanſicht entſprach einer Gemüthslage, welche bald in der ſtoiſchen Schule ihre Erneuerung bewirkte. Aber ſtärker als dieſe beiden metaphyſiſchen Grundanſichten war der ſkeptiſche Geiſt. Er hatte in der eleatiſchen Schule Widerſprüche in den Grundvorſtellungen der Phyſik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metapyſik auf- gelöſt werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklit’s vermittelſt des Widerſpruchs im Werden einen Tummelplatz des Skepticismus gemacht. Dieſer ſkeptiſche Geiſt war mit jedem neuen metaphyſiſchen Verſuche gewachſen und über- fluthete nun die ganze griechiſche Wiſſenſchaft. Er wurde be- günſtigt durch die Veränderungen in dem ſozialen und politiſchen Leben von Athen, das ſeit Anaxagoras die griechiſche Wiſſenſchaft centraliſirte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche die Beſchäftigung mit geiſtigen Thatſachen, mit Sprache, Redekunſt, Staat in den Vordergrund rückte. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos trat unter dieſen Umſtänden der Anfang einer Erkenntnißtheorie gegenüber.
Blicken wir voraus. Welches wird unter dieſen Umſtänden das Schickſal der monotheiſtiſchen Weltanſicht ſein?
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
krit’s in der Ausbildung ſorgfältiger beſchreibender Wiſſenſchaft, ja
er verſchmäht hier ſogar nicht, den Thatbeſtand durch Vorſtellung
eines Verhältniſſes von Zweckmäßigkeit zwiſchen den Organen des
thieriſchen Körpers und den Aufgaben ſeines Lebens verſtändlich
zu machen.
Hieraus verſtehen wir, was ſich nun ereignete. Die mono-
theiſtiſche Metaphyſik Europas hat nicht nur die pantheiſtiſchen
Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fort-
wirkten, ſondern auch die mechaniſche Welterklärung als unge-
nügende Konſtruktionen zur Seite geſchoben. Jedoch hat ſie nicht
vermocht, dieſelben zu vernichten. Die mechaniſche Weltanſicht
ſprach eine dem Verſtande entſprechende Möglichkeit aus und
blieb aufrecht, mit ſtarkem Bewußtſein ihrer im Rechnen mit den
ſinnlichen Thatſachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges
brach freilich erſt an, als die experimentellen Methoden ſich ihrer
bemächtigten. Die pantheiſtiſche Weltanſicht entſprach
einer Gemüthslage, welche bald in der ſtoiſchen Schule ihre
Erneuerung bewirkte. Aber ſtärker als dieſe beiden metaphyſiſchen
Grundanſichten war der ſkeptiſche Geiſt. Er hatte in der
eleatiſchen Schule Widerſprüche in den Grundvorſtellungen der
Phyſik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metapyſik auf-
gelöſt werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklit’s
vermittelſt des Widerſpruchs im Werden einen Tummelplatz
des Skepticismus gemacht. Dieſer ſkeptiſche Geiſt war mit
jedem neuen metaphyſiſchen Verſuche gewachſen und über-
fluthete nun die ganze griechiſche Wiſſenſchaft. Er wurde be-
günſtigt durch die Veränderungen in dem ſozialen und politiſchen
Leben von Athen, das ſeit Anaxagoras die griechiſche Wiſſenſchaft
centraliſirte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der
wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche die Beſchäftigung mit geiſtigen
Thatſachen, mit Sprache, Redekunſt, Staat in den Vordergrund
rückte. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos trat unter dieſen Umſtänden
der Anfang einer Erkenntnißtheorie gegenüber.
Blicken wir voraus. Welches wird unter dieſen Umſtänden
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/239>, abgerufen am 21.11.2024.
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