Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. In der mächtigen intellektuellen Organisation des Socrates 1) d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämissen der modernen Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Christus dagewesen: nur die Personen fehlten, welche die Konsequenz gezogen hätten! 1) Die kritischen Schwierigkeiten, welche aus der Verschiedenheit zwischen der Relation des Xenophon und dem platonischen Bilde entspringen, lösen sich nicht zureichend vermittelst des von Schleiermacher aufgestellten und seitdem von der Forschung meist acceptirten Kanons (vgl. nebst Litt. bei Zeller II 3 85 ff.), sondern indem man Platos Apologie des Socrates zur kritischen Entscheidung zwischen jener Relation und den anderen plato- nischen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen Sinn, wenn sie ein treues Bild des Socrates, mindestens in Bezug auf die Gegenstände der Anklage, gab. Diese Treue der Tarstellung ist also hier gewährleistet, während sie in allen andren Werken Platos nur durch eine der Diskussion mehr ausgesetzte Untersuchung festgestellt werden kann. 2) Ueber diesen fundamentalen Thatbestand besteht Einigkeit zwischen
der direkten Darstellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato seinem Socrates giebt, und der Hauptstelle des Xenophon über das Ver- fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. bes. daselbst § 13 epi ten upothesin epanegen an panta ton logon und 14 outo de ton logon epanagomenon kai tois antilegousin autois phaneron egigneto talethes. Er suchte asphaleian logou (§ 15). Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates 1) d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten! 1) Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen, löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei Zeller II 3 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato- niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann. 2) Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen
der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver- fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές. Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0245" n="222"/> <fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> <p>In der mächtigen intellektuellen Organiſation des <hi rendition="#g">Socrates</hi> <note place="foot" n="1)">Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit<lb/> zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen,<lb/> löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten<lb/> und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei<lb/> Zeller <hi rendition="#aq">II</hi> <hi rendition="#sup">3</hi> 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates<lb/> zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato-<lb/> niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen<lb/> Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die<lb/> Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier<lb/> gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine<lb/> der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann.</note><lb/> vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche<lb/> im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht<lb/> wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub-<lb/> jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand<lb/> hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte<lb/> er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits-<lb/> durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt<lb/> wandte beharrlich die Methode an, <hi rendition="#g">von dem vorhandenen<lb/> Wiſſen und Glauben</hi> der Zeit <hi rendition="#g">auf den Rechtsgrund<lb/> jedes Satzes zurückzugehen</hi> <note place="foot" n="2)">Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen<lb/> der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato<lb/> ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver-<lb/> fahren des Socrates <hi rendition="#aq">Memorab. IV</hi>, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν<lb/> ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων<lb/> ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές.<lb/> Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15).</note>. Er ſetzte alſo an die Stelle<lb/> eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine<lb/> Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung<lb/> zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch<lb/> das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein-<lb/> fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes<lb/> für die umherſchwirrenden Meinungen die <hi rendition="#g">Frage</hi> nach dieſem Rechts-<lb/> grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte<lb/><note xml:id="note-0245" prev="#note-0244" place="foot" n="2)">d. Materialismus <hi rendition="#aq">I</hi>, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen<lb/> Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die<lb/> Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten!</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [222/0245]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates 1)
vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche
im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht
wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub-
jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand
hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte
er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits-
durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt
wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen
Wiſſen und Glauben der Zeit auf den Rechtsgrund
jedes Satzes zurückzugehen 2). Er ſetzte alſo an die Stelle
eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine
Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung
zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch
das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein-
fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes
für die umherſchwirrenden Meinungen die Frage nach dieſem Rechts-
grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte
2)
1) Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit
zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen,
löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten
und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei
Zeller II 3 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates
zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato-
niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen
Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die
Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier
gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine
der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann.
2) Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen
der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato
ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver-
fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν
ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων
ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές.
Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15).
2) d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen
Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die
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