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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.

In der mächtigen intellektuellen Organisation des Socrates 1)
vollzog sich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche
im Zweckzusammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht
wurde. Er fand in der Sophistik das prüfende, zweifelnde Sub-
jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphysik nicht Stand
hielt. In der ungeheuren Erschütterung aller Vorstellungen suchte
er einen Halt; durch dieses Positive in seiner großen wahrheits-
durstigen Natur schied er sich von den Sophisten. Er zuerst
wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen
Wissen und Glauben
der Zeit auf den Rechtsgrund
jedes Satzes zurückzugehen
2). Er setzte also an die Stelle
eines aus genialen Aufstellungen ableitenden Verfahrens eine
Methode, welche jede Aufstellung auf ihre logische Begründung
zurückführte. -- Und zwar, wie in diesem griechischen Volke auch
das wissenschaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein-
fachste, nächstliegende Form von Untersuchung des Rechtsgrundes
für die umherschwirrenden Meinungen die Frage nach diesem Rechts-
grunde sein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte

d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämissen der modernen
Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Christus dagewesen: nur die
Personen fehlten, welche die Konsequenz gezogen hätten!
1) Die kritischen Schwierigkeiten, welche aus der Verschiedenheit
zwischen der Relation des Xenophon und dem platonischen Bilde entspringen,
lösen sich nicht zureichend vermittelst des von Schleiermacher aufgestellten
und seitdem von der Forschung meist acceptirten Kanons (vgl. nebst Litt. bei
Zeller II 3 85 ff.), sondern indem man Platos Apologie des Socrates
zur kritischen Entscheidung zwischen jener Relation und den anderen plato-
nischen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen
Sinn, wenn sie ein treues Bild des Socrates, mindestens in Bezug auf die
Gegenstände der Anklage, gab. Diese Treue der Tarstellung ist also hier
gewährleistet, während sie in allen andren Werken Platos nur durch eine
der Diskussion mehr ausgesetzte Untersuchung festgestellt werden kann.
2) Ueber diesen fundamentalen Thatbestand besteht Einigkeit zwischen
der direkten Darstellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato
seinem Socrates giebt, und der Hauptstelle des Xenophon über das Ver-
fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. bes. daselbst § 13 epi ten
upothesin epanegen an panta ton logon und 14 outo de ton logon
epanagomenon kai tois antilegousin autois phaneron egigneto talethes.
Er suchte asphaleian logou (§ 15).
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.

In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates 1)
vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche
im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht
wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub-
jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand
hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte
er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits-
durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt
wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen
Wiſſen und Glauben
der Zeit auf den Rechtsgrund
jedes Satzes zurückzugehen
2). Er ſetzte alſo an die Stelle
eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine
Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung
zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch
das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein-
fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes
für die umherſchwirrenden Meinungen die Frage nach dieſem Rechts-
grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte

d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen
Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die
Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten!
1) Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit
zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen,
löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten
und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei
Zeller II 3 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates
zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato-
niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen
Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die
Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier
gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine
der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann.
2) Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen
der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato
ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver-
fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν
ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων
ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές.
Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15).
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[222/0245] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates 1) vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub- jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits- durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen Wiſſen und Glauben der Zeit auf den Rechtsgrund jedes Satzes zurückzugehen 2). Er ſetzte alſo an die Stelle eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein- fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes für die umherſchwirrenden Meinungen die Frage nach dieſem Rechts- grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte 2) 1) Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen, löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei Zeller II 3 85 ff.), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato- niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann. 2) Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver- fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές. Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15). 2) d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten!

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/245>, abgerufen am 21.11.2024.