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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
wickeln und zu rechtfertigen, welche das klare Maß für das
handelnde Leben sein konnten 1).

Hat nun Socrates die Grenzen überschritten, welche wir als
die des griechischen Menschen überhaupt bezeichnet haben? Auch
der Selbstbesinnung des Socrates geht nicht auf, daß die Außen-
welt Phänomen des Selbstbewußtseins, daß uns aber in diesem selber
ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben sei, deren Erkenntniß uns allererst
eine unanfechtbare Realität aufdeckt. Wol ist diese Selbstbesin-
nung der tiefste Punkt, den der griechische Mensch in dem Rückgang
auf die wahre Positivität erreichte, wie das frivole Nichts des Gorgias
die äußerste Grenze bezeichnet, zu welcher sein skeptisches Verhalten
gelangte. Sie ist aber nur der Rückgang in den Erkenntnißgrund des
Wissens; daher entspringt aus ihr Logik als Wissenschaftslehre, wie
sie Plato als Möglichkeit sah und Aristoteles ausführte. Im Zu-
sammenhang hiermit steht dann die Aufsuchung des Erkenntnißgrun-
des für sittliche Sätze im Bewußtsein: und aus ihr entspringt die
platonisch-aristotelische Ethik. Daher ist diese Selbstbesinnung logisch
und ethisch; sie entwirft Regeln für die Beziehung des Denkens zum
äußeren Sein in der Erkenntniß der Außenwelt, für die Be-
ziehung des Willens zu ihm im Handeln; aber noch ist in ihr
keine Ahnung, daß im Selbstbewußtsein eine mächtige Realität auf-
gehe, ja die einzige, deren wir unmittelbar inne werden, noch weniger
davon, daß alle Realität nur in unserem Erlebniß gegeben sei.
Denn diese Realität wird für die metaphysische Besinnung erst
vorhanden sein, wo der Wille in ihren Horizont tritt.



1) Vgl. Xenophon's Relation der einzelnen Gespräche sowie die unbe-
holfene, aber wahrhafte Charakteristik des Verfahrens von Socrates IV, 6,
nach welcher er sittliche und politische Fragen durch Zurückführung auf
Begriffe, welche an dem Erkenntnißgrund des sittlichen Bewußtseins erwiesen
wurden, zur Entscheidung brachte. Hierbei ist die besondere Natur dieser
Werthbegriffe, welche Sätze in sich schließen, zu erwägen. Vgl. weiter Ari-
stoteles (Stellen b. Bonitz ind. Arist. p. 741); wenn dieser Metaph. XIII, 4
p. 1078 b
27, dem Socrates Induktion und Begriffsbestimmung (nicht nur die
letztere) zuschreibt, so muß berücksichtigt werden, daß derselbe ein analytisches
Verfahren als Bestandtheil der logischen Operation nicht kennt und darum
das ganze Verfahren des Socrates der Induktion unterordnen muß.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wickeln und zu rechtfertigen, welche das klare Maß für das
handelnde Leben ſein konnten 1).

Hat nun Socrates die Grenzen überſchritten, welche wir als
die des griechiſchen Menſchen überhaupt bezeichnet haben? Auch
der Selbſtbeſinnung des Socrates geht nicht auf, daß die Außen-
welt Phänomen des Selbſtbewußtſeins, daß uns aber in dieſem ſelber
ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben ſei, deren Erkenntniß uns allererſt
eine unanfechtbare Realität aufdeckt. Wol iſt dieſe Selbſtbeſin-
nung der tiefſte Punkt, den der griechiſche Menſch in dem Rückgang
auf die wahre Poſitivität erreichte, wie das frivole Nichts des Gorgias
die äußerſte Grenze bezeichnet, zu welcher ſein ſkeptiſches Verhalten
gelangte. Sie iſt aber nur der Rückgang in den Erkenntnißgrund des
Wiſſens; daher entſpringt aus ihr Logik als Wiſſenſchaftslehre, wie
ſie Plato als Möglichkeit ſah und Ariſtoteles ausführte. Im Zu-
ſammenhang hiermit ſteht dann die Aufſuchung des Erkenntnißgrun-
des für ſittliche Sätze im Bewußtſein: und aus ihr entſpringt die
platoniſch-ariſtoteliſche Ethik. Daher iſt dieſe Selbſtbeſinnung logiſch
und ethiſch; ſie entwirft Regeln für die Beziehung des Denkens zum
äußeren Sein in der Erkenntniß der Außenwelt, für die Be-
ziehung des Willens zu ihm im Handeln; aber noch iſt in ihr
keine Ahnung, daß im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf-
gehe, ja die einzige, deren wir unmittelbar inne werden, noch weniger
davon, daß alle Realität nur in unſerem Erlebniß gegeben ſei.
Denn dieſe Realität wird für die metaphyſiſche Beſinnung erſt
vorhanden ſein, wo der Wille in ihren Horizont tritt.



1) Vgl. Xenophon’s Relation der einzelnen Geſpräche ſowie die unbe-
holfene, aber wahrhafte Charakteriſtik des Verfahrens von Socrates IV, 6,
nach welcher er ſittliche und politiſche Fragen durch Zurückführung auf
Begriffe, welche an dem Erkenntnißgrund des ſittlichen Bewußtſeins erwieſen
wurden, zur Entſcheidung brachte. Hierbei iſt die beſondere Natur dieſer
Werthbegriffe, welche Sätze in ſich ſchließen, zu erwägen. Vgl. weiter Ari-
ſtoteles (Stellen b. Bonitz ind. Arist. p. 741); wenn dieſer Metaph. XIII, 4
p. 1078 b
27, dem Socrates Induktion und Begriffsbeſtimmung (nicht nur die
letztere) zuſchreibt, ſo muß berückſichtigt werden, daß derſelbe ein analytiſches
Verfahren als Beſtandtheil der logiſchen Operation nicht kennt und darum
das ganze Verfahren des Socrates der Induktion unterordnen muß.
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[224/0247] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. wickeln und zu rechtfertigen, welche das klare Maß für das handelnde Leben ſein konnten 1). Hat nun Socrates die Grenzen überſchritten, welche wir als die des griechiſchen Menſchen überhaupt bezeichnet haben? Auch der Selbſtbeſinnung des Socrates geht nicht auf, daß die Außen- welt Phänomen des Selbſtbewußtſeins, daß uns aber in dieſem ſelber ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben ſei, deren Erkenntniß uns allererſt eine unanfechtbare Realität aufdeckt. Wol iſt dieſe Selbſtbeſin- nung der tiefſte Punkt, den der griechiſche Menſch in dem Rückgang auf die wahre Poſitivität erreichte, wie das frivole Nichts des Gorgias die äußerſte Grenze bezeichnet, zu welcher ſein ſkeptiſches Verhalten gelangte. Sie iſt aber nur der Rückgang in den Erkenntnißgrund des Wiſſens; daher entſpringt aus ihr Logik als Wiſſenſchaftslehre, wie ſie Plato als Möglichkeit ſah und Ariſtoteles ausführte. Im Zu- ſammenhang hiermit ſteht dann die Aufſuchung des Erkenntnißgrun- des für ſittliche Sätze im Bewußtſein: und aus ihr entſpringt die platoniſch-ariſtoteliſche Ethik. Daher iſt dieſe Selbſtbeſinnung logiſch und ethiſch; ſie entwirft Regeln für die Beziehung des Denkens zum äußeren Sein in der Erkenntniß der Außenwelt, für die Be- ziehung des Willens zu ihm im Handeln; aber noch iſt in ihr keine Ahnung, daß im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf- gehe, ja die einzige, deren wir unmittelbar inne werden, noch weniger davon, daß alle Realität nur in unſerem Erlebniß gegeben ſei. Denn dieſe Realität wird für die metaphyſiſche Beſinnung erſt vorhanden ſein, wo der Wille in ihren Horizont tritt. 1) Vgl. Xenophon’s Relation der einzelnen Geſpräche ſowie die unbe- holfene, aber wahrhafte Charakteriſtik des Verfahrens von Socrates IV, 6, nach welcher er ſittliche und politiſche Fragen durch Zurückführung auf Begriffe, welche an dem Erkenntnißgrund des ſittlichen Bewußtſeins erwieſen wurden, zur Entſcheidung brachte. Hierbei iſt die beſondere Natur dieſer Werthbegriffe, welche Sätze in ſich ſchließen, zu erwägen. Vgl. weiter Ari- ſtoteles (Stellen b. Bonitz ind. Arist. p. 741); wenn dieſer Metaph. XIII, 4 p. 1078 b 27, dem Socrates Induktion und Begriffsbeſtimmung (nicht nur die letztere) zuſchreibt, ſo muß berückſichtigt werden, daß derſelbe ein analytiſches Verfahren als Beſtandtheil der logiſchen Operation nicht kennt und darum das ganze Verfahren des Socrates der Induktion unterordnen muß.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/247>, abgerufen am 24.11.2024.