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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Gegensatz hierzu ist dem Schüler des Socrates das Merkmal
wirklicher Erkenntniß der Zusammenhang des Satzes mit dem
Erkenntnißgrund und die durch ihn bedingte Denknoth-
wendigkeit
1). Dieser Erkenntnißzusammenhang nach Grund
und Folge gelangt daher nun als das die Wissenschaft Kon-
stituirende zum Bewußtsein. Und zwar richtet der organisa-
torische Geist Platos nicht wie Socrates an die, welche er auf
dem Markte findet, sondern an die Märchenerzähler der vergangenen
Tage insgemein, "als ob sie selbst zugegen wären", die sokratische
Frage nach dem Zusammenhang der von ihnen behaupteten Sätze
mit dem in dem Bewußtsein Feststehenden 2). Er fragt kraft der
sokratischen Methode: der Dialog ist daher seine Kunstform, die
Dialektik seine Methode; Socrates ist der Führer des Gesprächs,
den seine Feinde tödteten, um seine Fragen verstummen zu machen,
und den nun Plato an diesen Feinden rächt.

Ja indem dieser organisatorische Geist die Mathematik der
Zeit in seiner Schule zusammenfaßt und diese Schule zu einem
Mittelpunkt der mathematischen Gedankenarbeit macht, indem er die
mathematische Naturwissenschaft, insbesondere die Astronomie in Be-
zug auf ihren theoretischen Werth und ihre Evidenz prüft: bringt
der Begriff einer Rechenschaft über unser Wissen die erste Einsicht
in die zusammenhängende Organisation der Wissenschaften
vom Kosmos hervor. Die Philosophie empfängt nun die Auf-
gabe, von den Voraussetzungen, welche in jenen Wissenschaften noch
ohne Rechenschaft über ihre Giltigkeit eingeführt werden, zu den
ersten Erkenntnißgründen zurückzugehen, welche diese Rechenschaft
enthalten 3). Und so entsteht in Plato ein klares Bewußtsein über
das Problem, dessen Lösung nach der formalen Seite die griechische

1) Timäus 51 e. Meno 97 f. Politie VI, 506.
2) Sophistes 243 ff. Theätet 181 ff.
3) Politie VI, 511 entwirft, zum ersten Mal in der Geschichte der
Wissenschaften, dieses Problem der Wissenschaftslehre; alsdann wird Politie
VII, 523--534 eine Uebersicht dieser positiven Wissenschaften gegeben, und aus
ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: "die dialektische Methode allein
geht, die Voraussetzungen (upotheseis) aufhebend, gerade zum Anfang selbst,
damit dieser fest werde" (533 c.).

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Gegenſatz hierzu iſt dem Schüler des Socrates das Merkmal
wirklicher Erkenntniß der Zuſammenhang des Satzes mit dem
Erkenntnißgrund und die durch ihn bedingte Denknoth-
wendigkeit
1). Dieſer Erkenntnißzuſammenhang nach Grund
und Folge gelangt daher nun als das die Wiſſenſchaft Kon-
ſtituirende zum Bewußtſein. Und zwar richtet der organiſa-
toriſche Geiſt Platos nicht wie Socrates an die, welche er auf
dem Markte findet, ſondern an die Märchenerzähler der vergangenen
Tage insgemein, „als ob ſie ſelbſt zugegen wären“, die ſokratiſche
Frage nach dem Zuſammenhang der von ihnen behaupteten Sätze
mit dem in dem Bewußtſein Feſtſtehenden 2). Er fragt kraft der
ſokratiſchen Methode: der Dialog iſt daher ſeine Kunſtform, die
Dialektik ſeine Methode; Socrates iſt der Führer des Geſprächs,
den ſeine Feinde tödteten, um ſeine Fragen verſtummen zu machen,
und den nun Plato an dieſen Feinden rächt.

Ja indem dieſer organiſatoriſche Geiſt die Mathematik der
Zeit in ſeiner Schule zuſammenfaßt und dieſe Schule zu einem
Mittelpunkt der mathematiſchen Gedankenarbeit macht, indem er die
mathematiſche Naturwiſſenſchaft, insbeſondere die Aſtronomie in Be-
zug auf ihren theoretiſchen Werth und ihre Evidenz prüft: bringt
der Begriff einer Rechenſchaft über unſer Wiſſen die erſte Einſicht
in die zuſammenhängende Organiſation der Wiſſenſchaften
vom Kosmos hervor. Die Philoſophie empfängt nun die Auf-
gabe, von den Vorausſetzungen, welche in jenen Wiſſenſchaften noch
ohne Rechenſchaft über ihre Giltigkeit eingeführt werden, zu den
erſten Erkenntnißgründen zurückzugehen, welche dieſe Rechenſchaft
enthalten 3). Und ſo entſteht in Plato ein klares Bewußtſein über
das Problem, deſſen Löſung nach der formalen Seite die griechiſche

1) Timäus 51 e. Meno 97 f. Politie VI, 506.
2) Sophiſtes 243 ff. Theätet 181 ff.
3) Politie VI, 511 entwirft, zum erſten Mal in der Geſchichte der
Wiſſenſchaften, dieſes Problem der Wiſſenſchaftslehre; alsdann wird Politie
VII, 523—534 eine Ueberſicht dieſer poſitiven Wiſſenſchaften gegeben, und aus
ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: „die dialektiſche Methode allein
geht, die Vorausſetzungen (ὑποϑέσεις) aufhebend, gerade zum Anfang ſelbſt,
damit dieſer feſt werde“ (533 c.).
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[226/0249] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Gegenſatz hierzu iſt dem Schüler des Socrates das Merkmal wirklicher Erkenntniß der Zuſammenhang des Satzes mit dem Erkenntnißgrund und die durch ihn bedingte Denknoth- wendigkeit 1). Dieſer Erkenntnißzuſammenhang nach Grund und Folge gelangt daher nun als das die Wiſſenſchaft Kon- ſtituirende zum Bewußtſein. Und zwar richtet der organiſa- toriſche Geiſt Platos nicht wie Socrates an die, welche er auf dem Markte findet, ſondern an die Märchenerzähler der vergangenen Tage insgemein, „als ob ſie ſelbſt zugegen wären“, die ſokratiſche Frage nach dem Zuſammenhang der von ihnen behaupteten Sätze mit dem in dem Bewußtſein Feſtſtehenden 2). Er fragt kraft der ſokratiſchen Methode: der Dialog iſt daher ſeine Kunſtform, die Dialektik ſeine Methode; Socrates iſt der Führer des Geſprächs, den ſeine Feinde tödteten, um ſeine Fragen verſtummen zu machen, und den nun Plato an dieſen Feinden rächt. Ja indem dieſer organiſatoriſche Geiſt die Mathematik der Zeit in ſeiner Schule zuſammenfaßt und dieſe Schule zu einem Mittelpunkt der mathematiſchen Gedankenarbeit macht, indem er die mathematiſche Naturwiſſenſchaft, insbeſondere die Aſtronomie in Be- zug auf ihren theoretiſchen Werth und ihre Evidenz prüft: bringt der Begriff einer Rechenſchaft über unſer Wiſſen die erſte Einſicht in die zuſammenhängende Organiſation der Wiſſenſchaften vom Kosmos hervor. Die Philoſophie empfängt nun die Auf- gabe, von den Vorausſetzungen, welche in jenen Wiſſenſchaften noch ohne Rechenſchaft über ihre Giltigkeit eingeführt werden, zu den erſten Erkenntnißgründen zurückzugehen, welche dieſe Rechenſchaft enthalten 3). Und ſo entſteht in Plato ein klares Bewußtſein über das Problem, deſſen Löſung nach der formalen Seite die griechiſche 1) Timäus 51 e. Meno 97 f. Politie VI, 506. 2) Sophiſtes 243 ff. Theätet 181 ff. 3) Politie VI, 511 entwirft, zum erſten Mal in der Geſchichte der Wiſſenſchaften, dieſes Problem der Wiſſenſchaftslehre; alsdann wird Politie VII, 523—534 eine Ueberſicht dieſer poſitiven Wiſſenſchaften gegeben, und aus ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: „die dialektiſche Methode allein geht, die Vorausſetzungen (ὑποϑέσεις) aufhebend, gerade zum Anfang ſelbſt, damit dieſer feſt werde“ (533 c.).

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/249>, abgerufen am 21.11.2024.