diesem Gebiet fiel der sokratischen Schule, der Metaphysik der substantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegen- über der Metaphysik gesellschaftlicher Atome.
Die sokratische Schule war aus dem Bedürfniß ent- sprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophistik übrig ließ, einen festen Punkt zu entdecken. Ein solcher kann innerhalb des griechischen Vorstellungsschemas entweder in der Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in der Richtung der Bestimmung des Seins durch das Handeln gesucht werden. Er ist gegeben als Substanz in der Wirklichkeit oder als höchstes Gut in der Welt des Willens und Handelns, sei es der Einzelnen oder der Gemeinschaften. Socrates ließ die Mög- lichkeit eines festen Punktes für die Welterkenntniß fallen; er fand dagegen einen solchen für das Handeln, nämlich in den sittlichen Begriffen. Diese Sonderung der theoretischen und praktischen Philosophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der des griechischen Geistes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im Innewerden der feste Punkt für alle Erkenntniß, auch der objektiven Welt, liege: dieser Gedanke liegt selbst außerhalb des Gesichtskreises des Socrates. Erst wann diese klare Einsicht vorhanden ist, tritt die sittliche Welt, der feste Punkt alles Handelns in ihr, in den umfassenden Zusammenhang der menschlichen Wissenschaft. Mit ihr ist erst die falsche Sonderung der theoretischen und praktischen Wissenschaften überwunden, und die wahre Sonderung der Natur- wissenschaften von den Geisteswissenschaften kann begründet werden.
Indem Socrates in den sittlichen Begriffen ein Unveränder- liches entdeckt, empfängt auch die politische Wissenschaft ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entsteht nun nicht aus dem Spiele der denselben bildenden Atome. Vielmehr ist für Socrates im Wissen unverrückbar fest Ein Punkt gegeben, um welchen die Individuen gravitiren: das Gute. Das Gute ist nicht relativ, sondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet sich also als der die Gliederung des Staates beherrschende Gedanke die Einzelnen unter. Diese politische Auffassung des Socrates tritt
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dieſem Gebiet fiel der ſokratiſchen Schule, der Metaphyſik der ſubſtantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegen- über der Metaphyſik geſellſchaftlicher Atome.
Die ſokratiſche Schule war aus dem Bedürfniß ent- ſprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophiſtik übrig ließ, einen feſten Punkt zu entdecken. Ein ſolcher kann innerhalb des griechiſchen Vorſtellungsſchemas entweder in der Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in der Richtung der Beſtimmung des Seins durch das Handeln geſucht werden. Er iſt gegeben als Subſtanz in der Wirklichkeit oder als höchſtes Gut in der Welt des Willens und Handelns, ſei es der Einzelnen oder der Gemeinſchaften. Socrates ließ die Mög- lichkeit eines feſten Punktes für die Welterkenntniß fallen; er fand dagegen einen ſolchen für das Handeln, nämlich in den ſittlichen Begriffen. Dieſe Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der des griechiſchen Geiſtes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im Innewerden der feſte Punkt für alle Erkenntniß, auch der objektiven Welt, liege: dieſer Gedanke liegt ſelbſt außerhalb des Geſichtskreiſes des Socrates. Erſt wann dieſe klare Einſicht vorhanden iſt, tritt die ſittliche Welt, der feſte Punkt alles Handelns in ihr, in den umfaſſenden Zuſammenhang der menſchlichen Wiſſenſchaft. Mit ihr iſt erſt die falſche Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen Wiſſenſchaften überwunden, und die wahre Sonderung der Natur- wiſſenſchaften von den Geiſteswiſſenſchaften kann begründet werden.
Indem Socrates in den ſittlichen Begriffen ein Unveränder- liches entdeckt, empfängt auch die politiſche Wiſſenſchaft ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entſteht nun nicht aus dem Spiele der denſelben bildenden Atome. Vielmehr iſt für Socrates im Wiſſen unverrückbar feſt Ein Punkt gegeben, um welchen die Individuen gravitiren: das Gute. Das Gute iſt nicht relativ, ſondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet ſich alſo als der die Gliederung des Staates beherrſchende Gedanke die Einzelnen unter. Dieſe politiſche Auffaſſung des Socrates tritt
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dieſem Gebiet fiel der ſokratiſchen Schule, der Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegen-
über der Metaphyſik geſellſchaftlicher Atome.
Die ſokratiſche Schule war aus dem Bedürfniß ent-
ſprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophiſtik
übrig ließ, einen feſten Punkt zu entdecken. Ein ſolcher kann
innerhalb des griechiſchen Vorſtellungsſchemas entweder in der
Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in
der Richtung der Beſtimmung des Seins durch das Handeln
geſucht werden. Er iſt gegeben als Subſtanz in der Wirklichkeit oder
als höchſtes Gut in der Welt des Willens und Handelns, ſei es
der Einzelnen oder der Gemeinſchaften. Socrates ließ die Mög-
lichkeit eines feſten Punktes für die Welterkenntniß fallen; er
fand dagegen einen ſolchen für das Handeln, nämlich in den
ſittlichen Begriffen. Dieſe Sonderung der theoretiſchen und
praktiſchen Philoſophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der
des griechiſchen Geiſtes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im
Innewerden der feſte Punkt für alle Erkenntniß, auch der objektiven
Welt, liege: dieſer Gedanke liegt ſelbſt außerhalb des Geſichtskreiſes
des Socrates. Erſt wann dieſe klare Einſicht vorhanden iſt, tritt
die ſittliche Welt, der feſte Punkt alles Handelns in ihr, in den
umfaſſenden Zuſammenhang der menſchlichen Wiſſenſchaft. Mit
ihr iſt erſt die falſche Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen
Wiſſenſchaften überwunden, und die wahre Sonderung der Natur-
wiſſenſchaften von den Geiſteswiſſenſchaften kann begründet werden.
Indem Socrates in den ſittlichen Begriffen ein Unveränder-
liches entdeckt, empfängt auch die politiſche Wiſſenſchaft
ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entſteht nun nicht aus
dem Spiele der denſelben bildenden Atome. Vielmehr iſt für
Socrates im Wiſſen unverrückbar feſt Ein Punkt gegeben, um
welchen die Individuen gravitiren: das Gute. Das Gute iſt nicht
relativ, ſondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet ſich alſo
als der die Gliederung des Staates beherrſchende Gedanke die
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/307>, abgerufen am 22.11.2024.
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