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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
die einzelnen Theorien über die Systeme der Kultur und über die
äußere Organisation der Gesellschaft aus der Aufgabe technischer
Anweisungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, so haben
sie diesen praktischen Charakter behalten, der auch der Politik die
Richtung auf die beste Verfassung gab. Die theoretische Wissenschaft
in strengem Verstande endigt im Ganzen für diese Philosophen,
wo der Wille sein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieser
Betrachtungsweise ergiebt sich, daß diese Zeit das Problem noch
nicht sah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung
aller Erscheinungen unter das Kausalgesetz verträglich sei. Aber
dauernder als eine solche Einschränkung der Metaphysik, welche nur
vorübergehend sein sollte, wirkte in dieser Richtung das allgemeine
und bleibende Verhältniß der ganzen Metaphysik der
substantialen Formen zum Problem der Freiheit
.
Diese Metaphysik unterwarf dem Zusammenhang des Erkennens
nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von diesen wurde
aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidens-
werther Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Frei-
heitsbewußtseins, ungestört noch von der Frage nach der Stellung
desselben zu dem Kausalzusammenhang, welche die Wissenschaft auf-
stellt, spricht es Aristoteles aus, daß Handeln wie Unterlassen,
Tugend wie Laster in unserer Gewalt sei1).



Achtes Kapitel.
Zersetzung der Metaphysik im Skepticismus.
Die alten Völker treten in das Stadium der Einzelwissenschaften.

Die Stellung, welche Aristoteles der Erkenntniß zur Wirklich-
keit giebt, ist die, welche die Metaphysik selber ihr vorschreibt.
Die erklärende Geschichte der Metaphysik hat daher nunmehr ihr
Hauptwerk gethan; nur Fortbildung der Metaphysik liegt noch
vor ihr.


1) Eth. Nic. III, 7 p. 1113b 6. Näher Trendelenburg hist. Beiträge
II, 149 ff.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
die einzelnen Theorien über die Syſteme der Kultur und über die
äußere Organiſation der Geſellſchaft aus der Aufgabe techniſcher
Anweiſungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, ſo haben
ſie dieſen praktiſchen Charakter behalten, der auch der Politik die
Richtung auf die beſte Verfaſſung gab. Die theoretiſche Wiſſenſchaft
in ſtrengem Verſtande endigt im Ganzen für dieſe Philoſophen,
wo der Wille ſein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieſer
Betrachtungsweiſe ergiebt ſich, daß dieſe Zeit das Problem noch
nicht ſah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung
aller Erſcheinungen unter das Kauſalgeſetz verträglich ſei. Aber
dauernder als eine ſolche Einſchränkung der Metaphyſik, welche nur
vorübergehend ſein ſollte, wirkte in dieſer Richtung das allgemeine
und bleibende Verhältniß der ganzen Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen zum Problem der Freiheit
.
Dieſe Metaphyſik unterwarf dem Zuſammenhang des Erkennens
nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von dieſen wurde
aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidens-
werther Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Frei-
heitsbewußtſeins, ungeſtört noch von der Frage nach der Stellung
deſſelben zu dem Kauſalzuſammenhang, welche die Wiſſenſchaft auf-
ſtellt, ſpricht es Ariſtoteles aus, daß Handeln wie Unterlaſſen,
Tugend wie Laſter in unſerer Gewalt ſei1).



Achtes Kapitel.
Zerſetzung der Metaphyſik im Skepticismus.
Die alten Völker treten in das Stadium der Einzelwiſſenſchaften.

Die Stellung, welche Ariſtoteles der Erkenntniß zur Wirklich-
keit giebt, iſt die, welche die Metaphyſik ſelber ihr vorſchreibt.
Die erklärende Geſchichte der Metaphyſik hat daher nunmehr ihr
Hauptwerk gethan; nur Fortbildung der Metaphyſik liegt noch
vor ihr.


1) Eth. Nic. III, 7 p. 1113b 6. Näher Trendelenburg hiſt. Beiträge
II, 149 ff.
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[296/0319] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. die einzelnen Theorien über die Syſteme der Kultur und über die äußere Organiſation der Geſellſchaft aus der Aufgabe techniſcher Anweiſungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, ſo haben ſie dieſen praktiſchen Charakter behalten, der auch der Politik die Richtung auf die beſte Verfaſſung gab. Die theoretiſche Wiſſenſchaft in ſtrengem Verſtande endigt im Ganzen für dieſe Philoſophen, wo der Wille ſein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieſer Betrachtungsweiſe ergiebt ſich, daß dieſe Zeit das Problem noch nicht ſah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung aller Erſcheinungen unter das Kauſalgeſetz verträglich ſei. Aber dauernder als eine ſolche Einſchränkung der Metaphyſik, welche nur vorübergehend ſein ſollte, wirkte in dieſer Richtung das allgemeine und bleibende Verhältniß der ganzen Metaphyſik der ſubſtantialen Formen zum Problem der Freiheit. Dieſe Metaphyſik unterwarf dem Zuſammenhang des Erkennens nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von dieſen wurde aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidens- werther Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Frei- heitsbewußtſeins, ungeſtört noch von der Frage nach der Stellung deſſelben zu dem Kauſalzuſammenhang, welche die Wiſſenſchaft auf- ſtellt, ſpricht es Ariſtoteles aus, daß Handeln wie Unterlaſſen, Tugend wie Laſter in unſerer Gewalt ſei 1). Achtes Kapitel. Zerſetzung der Metaphyſik im Skepticismus. Die alten Völker treten in das Stadium der Einzelwiſſenſchaften. Die Stellung, welche Ariſtoteles der Erkenntniß zur Wirklich- keit giebt, iſt die, welche die Metaphyſik ſelber ihr vorſchreibt. Die erklärende Geſchichte der Metaphyſik hat daher nunmehr ihr Hauptwerk gethan; nur Fortbildung der Metaphyſik liegt noch vor ihr. 1) Eth. Nic. III, 7 p. 1113b 6. Näher Trendelenburg hiſt. Beiträge II, 149 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/319>, abgerufen am 22.11.2024.