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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
dagegen stützte sich ausschließlich auf Erfahrung und trat in den
Dienst jener Civilisation, welche der Herrschaft über die Erde
zustrebt.

Die bezeichneten metaphysischen Systeme haben auf ein-
fachere Weise Ergebnisse zusammengefaßt und erlernbar gemacht; sie
haben dieselben möglichst den Angriffen der Skeptiker durch geringere
Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem
anwachsenden empirischen Geiste angenähert. So liegt ihr Ziel in
einer Gemüthsverfassung, ihr Zusammenhang in der allgemeinen
Kultur, ihre Darstellungsform in der Vereinfachung. Der Ato-
mismus
ist durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Er-
klärung der komplexen Thatsachen der Natur geworden, als er in
dem System des Demokrit gewesen war. Denn die Annahme der
Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten
kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geschwindigkeit
und einer Abweichung von der senkrechten Linie, war so augenschein-
lich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtsinn
der Schule und ihre rückständigen astronomischen Ansichten diesen
Theil des Systems erklärlich machen. Der Monotheismus
hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder
pantheistisch färbt, den Gegensatz einer bewegenden, die Formen
in sich fassenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden.

Die Geschichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auf-
treten des Leukipp ab der Gegensatz einer mechanischen,
atomistischen
Erklärung der Natur und einer theistischen,
teleologischen
fortbestanden hat, so lange die alten Völker lebten.
Die atomistische Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr
ist der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Theile stehen in ihm
ein jeder für sich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszustand
der Welt, von dem sie ausgeht, ist dem ersten Zustand der Ge-
sellschaft, den die naturrechtlichen Theoretiker ersannen, zu ver-
gleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen sind,
die nur an sich denken und nun in der Enge derselben aneinander-
prallen. Und zwar bildet sich mit immer klarerer Einseitigkeit diese
Richtung aus, welche das ganze Problem eliminirt: wie können

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
dagegen ſtützte ſich ausſchließlich auf Erfahrung und trat in den
Dienſt jener Civiliſation, welche der Herrſchaft über die Erde
zuſtrebt.

Die bezeichneten metaphyſiſchen Syſteme haben auf ein-
fachere Weiſe Ergebniſſe zuſammengefaßt und erlernbar gemacht; ſie
haben dieſelben möglichſt den Angriffen der Skeptiker durch geringere
Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem
anwachſenden empiriſchen Geiſte angenähert. So liegt ihr Ziel in
einer Gemüthsverfaſſung, ihr Zuſammenhang in der allgemeinen
Kultur, ihre Darſtellungsform in der Vereinfachung. Der Ato-
mismus
iſt durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Er-
klärung der komplexen Thatſachen der Natur geworden, als er in
dem Syſtem des Demokrit geweſen war. Denn die Annahme der
Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten
kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geſchwindigkeit
und einer Abweichung von der ſenkrechten Linie, war ſo augenſchein-
lich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtſinn
der Schule und ihre rückſtändigen aſtronomiſchen Anſichten dieſen
Theil des Syſtems erklärlich machen. Der Monotheismus
hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder
pantheiſtiſch färbt, den Gegenſatz einer bewegenden, die Formen
in ſich faſſenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden.

Die Geſchichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auf-
treten des Leukipp ab der Gegenſatz einer mechaniſchen,
atomiſtiſchen
Erklärung der Natur und einer theiſtiſchen,
teleologiſchen
fortbeſtanden hat, ſo lange die alten Völker lebten.
Die atomiſtiſche Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr
iſt der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Theile ſtehen in ihm
ein jeder für ſich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszuſtand
der Welt, von dem ſie ausgeht, iſt dem erſten Zuſtand der Ge-
ſellſchaft, den die naturrechtlichen Theoretiker erſannen, zu ver-
gleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen ſind,
die nur an ſich denken und nun in der Enge derſelben aneinander-
prallen. Und zwar bildet ſich mit immer klarerer Einſeitigkeit dieſe
Richtung aus, welche das ganze Problem eliminirt: wie können

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[306/0329] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. dagegen ſtützte ſich ausſchließlich auf Erfahrung und trat in den Dienſt jener Civiliſation, welche der Herrſchaft über die Erde zuſtrebt. Die bezeichneten metaphyſiſchen Syſteme haben auf ein- fachere Weiſe Ergebniſſe zuſammengefaßt und erlernbar gemacht; ſie haben dieſelben möglichſt den Angriffen der Skeptiker durch geringere Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem anwachſenden empiriſchen Geiſte angenähert. So liegt ihr Ziel in einer Gemüthsverfaſſung, ihr Zuſammenhang in der allgemeinen Kultur, ihre Darſtellungsform in der Vereinfachung. Der Ato- mismus iſt durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Er- klärung der komplexen Thatſachen der Natur geworden, als er in dem Syſtem des Demokrit geweſen war. Denn die Annahme der Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geſchwindigkeit und einer Abweichung von der ſenkrechten Linie, war ſo augenſchein- lich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtſinn der Schule und ihre rückſtändigen aſtronomiſchen Anſichten dieſen Theil des Syſtems erklärlich machen. Der Monotheismus hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder pantheiſtiſch färbt, den Gegenſatz einer bewegenden, die Formen in ſich faſſenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden. Die Geſchichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auf- treten des Leukipp ab der Gegenſatz einer mechaniſchen, atomiſtiſchen Erklärung der Natur und einer theiſtiſchen, teleologiſchen fortbeſtanden hat, ſo lange die alten Völker lebten. Die atomiſtiſche Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr iſt der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Theile ſtehen in ihm ein jeder für ſich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszuſtand der Welt, von dem ſie ausgeht, iſt dem erſten Zuſtand der Ge- ſellſchaft, den die naturrechtlichen Theoretiker erſannen, zu ver- gleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen ſind, die nur an ſich denken und nun in der Enge derſelben aneinander- prallen. Und zwar bildet ſich mit immer klarerer Einſeitigkeit dieſe Richtung aus, welche das ganze Problem eliminirt: wie können

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/329>, abgerufen am 22.11.2024.