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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechische Entwicklung
zu Ende gegangen ist, wie die Züge Alexander's den Osten er-
schließen und alsdann später das römische Imperium seine welt-
geschichtliche Mission einer Vereinigung aller kultivirten Nationen
unter Einem Rechte und Einem Haupte zu vollbringen sich anschickt:
verändert sich allmälig das Lebensgefühl des Menschen, der den
Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der
östlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinsam Menschliche
fühlt; das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt
und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem macedonischen
Fürsten oder später unter römischen Optimaten steht, mit dem Staate
verbindet, ist von gänzlich anderer Art als das, welches einen
Socrates mit dem Rechte seiner Heimathstadt verbunden hatte. So
entsteht eine gänzlich veränderte politische Philosophie.

Die Literatur über den Staat ist in beständigem Wachsthum
begriffen. Cicero spricht mit Bewunderung von der großen Zahl
und der geistigen Bedeutung der politischen Werke aus der Schule
von Plato und Aristoteles; wir kennen die Titel der politischen
Schriften von Speusipp aus Athen, von Xenocrates aus Chal-
cedo, von Heraclides aus dem pontischen Heraclea, dann die von
Theophrast aus Eresus (eine große Zahl), von Demetrius aus
Phalerum, von Dikäarch aus Messana. Neben die augenscheinlich
geringe Zahl von politischen oder vielmehr gegen das politische
Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche stoische
politische Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Cleanthes
aus Assus, des Herill aus Karthago, Persäus aus Citium, Chry-
sipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia,
Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der stoischen
Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt.
Zeno wird als ein Phönicier bezeichnet; Persäus soll zunächst
Sklave Zenos gewesen sein. Indem die Stoa die Barbarenvölker
zu sich heranzieht, indem alsdann die Uebertragung der griechischen
Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer stattfindet,
vollzieht sich eine Verbindung der politischen Wissenschaft, ins-
besondere der stoischen, mit den Monarchien, die auf Alexander

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechiſche Entwicklung
zu Ende gegangen iſt, wie die Züge Alexander’s den Oſten er-
ſchließen und alsdann ſpäter das römiſche Imperium ſeine welt-
geſchichtliche Miſſion einer Vereinigung aller kultivirten Nationen
unter Einem Rechte und Einem Haupte zu vollbringen ſich anſchickt:
verändert ſich allmälig das Lebensgefühl des Menſchen, der den
Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der
öſtlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinſam Menſchliche
fühlt; das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt
und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem macedoniſchen
Fürſten oder ſpäter unter römiſchen Optimaten ſteht, mit dem Staate
verbindet, iſt von gänzlich anderer Art als das, welches einen
Socrates mit dem Rechte ſeiner Heimathſtadt verbunden hatte. So
entſteht eine gänzlich veränderte politiſche Philoſophie.

Die Literatur über den Staat iſt in beſtändigem Wachsthum
begriffen. Cicero ſpricht mit Bewunderung von der großen Zahl
und der geiſtigen Bedeutung der politiſchen Werke aus der Schule
von Plato und Ariſtoteles; wir kennen die Titel der politiſchen
Schriften von Speuſipp aus Athen, von Xenocrates aus Chal-
cedo, von Heraclides aus dem pontiſchen Heraclea, dann die von
Theophraſt aus Ereſus (eine große Zahl), von Demetrius aus
Phalerum, von Dikäarch aus Meſſana. Neben die augenſcheinlich
geringe Zahl von politiſchen oder vielmehr gegen das politiſche
Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche ſtoiſche
politiſche Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Cleanthes
aus Aſſus, des Herill aus Karthago, Perſäus aus Citium, Chry-
ſipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia,
Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der ſtoiſchen
Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt.
Zeno wird als ein Phönicier bezeichnet; Perſäus ſoll zunächſt
Sklave Zenos geweſen ſein. Indem die Stoa die Barbarenvölker
zu ſich heranzieht, indem alsdann die Uebertragung der griechiſchen
Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer ſtattfindet,
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[308/0331] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechiſche Entwicklung zu Ende gegangen iſt, wie die Züge Alexander’s den Oſten er- ſchließen und alsdann ſpäter das römiſche Imperium ſeine welt- geſchichtliche Miſſion einer Vereinigung aller kultivirten Nationen unter Einem Rechte und Einem Haupte zu vollbringen ſich anſchickt: verändert ſich allmälig das Lebensgefühl des Menſchen, der den Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der öſtlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinſam Menſchliche fühlt; das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem macedoniſchen Fürſten oder ſpäter unter römiſchen Optimaten ſteht, mit dem Staate verbindet, iſt von gänzlich anderer Art als das, welches einen Socrates mit dem Rechte ſeiner Heimathſtadt verbunden hatte. So entſteht eine gänzlich veränderte politiſche Philoſophie. Die Literatur über den Staat iſt in beſtändigem Wachsthum begriffen. Cicero ſpricht mit Bewunderung von der großen Zahl und der geiſtigen Bedeutung der politiſchen Werke aus der Schule von Plato und Ariſtoteles; wir kennen die Titel der politiſchen Schriften von Speuſipp aus Athen, von Xenocrates aus Chal- cedo, von Heraclides aus dem pontiſchen Heraclea, dann die von Theophraſt aus Ereſus (eine große Zahl), von Demetrius aus Phalerum, von Dikäarch aus Meſſana. Neben die augenſcheinlich geringe Zahl von politiſchen oder vielmehr gegen das politiſche Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche ſtoiſche politiſche Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Cleanthes aus Aſſus, des Herill aus Karthago, Perſäus aus Citium, Chry- ſipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia, Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der ſtoiſchen Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt. Zeno wird als ein Phönicier bezeichnet; Perſäus ſoll zunächſt Sklave Zenos geweſen ſein. Indem die Stoa die Barbarenvölker zu ſich heranzieht, indem alsdann die Uebertragung der griechiſchen Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer ſtattfindet, vollzieht ſich eine Verbindung der politiſchen Wiſſenſchaft, ins- beſondere der ſtoiſchen, mit den Monarchien, die auf Alexander

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/331>, abgerufen am 22.11.2024.