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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
christliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorstellungen
von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück
des Lebens zerrissen. Ja die Verbindung des Gottesbewußt-
seins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt
zurück hinter den Zusammenhang dieses erhabensten menschlichen
Gefühls, das sich von keinem Raume einschränken läßt, mit den
Erfahrungen des ärmsten unruhevoll in engem Kreise durch die
Natur seines Daseins bewegten Menschenherzens. Auf jener Ver-
bindung beruhte vordem die Anschauung, welche die griechische
Wissenschaft vom Kosmos hatte, und der künstlerische Aufbau eines
Gegenbildes dieses Kosmos in der sittlich-gesellschaftlichen Welt,
wie ihn die Staatswissenschaft der Alten entwarf. Nun soll die
Vollkommenheit der Gottheit selber mit Knechtsgestalt und Leiden
zusammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: sie sind
im religiösen Erlebniß eins. Das Vollkommene hat nicht nöthig,
im Glanz der Gestirnwelt zu strahlen und in Glück und Macht
sich zu sonnen. Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. So hat
der Wille nun nicht mehr sein Genüge in der Herstellung eines
objektiven Thatbestandes, in dem sichtbaren sittlichen Kunstwerk der
Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr
geht er hinter dieses Alles als bloße Gestalt der Welt, in sich selber
zurück. Der Wille, welcher objektive Thatbestände in der Welt
gestaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtseins, der seine
Ziele angehören. Im Christenthum erfährt der Wille seinen
eigenen meta physischen Charakter. Damit berühren wir die Gränze
unserer hier dem Menschlichen, Geschichtlichen allein zugewandten
Betrachtungsweise.

Diese tiefe Veränderung im menschlichen Seelenleben schließt
die Bedingungen in sich, unter welchen die Schranken der
antiken Wissenschaft durchbrochen werden konnten und
allmählich durchbrochen worden sind.

Wissen war für den griechischen Geist Abbilden eines Objek-
tiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebniß zum Mittel-
punkt aller Interessen der neuen Gemeinden; dieses ist aber ein
einfaches Innewerden dessen, was in der Person, im Selbst-

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
chriſtliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorſtellungen
von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück
des Lebens zerriſſen. Ja die Verbindung des Gottesbewußt-
ſeins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt
zurück hinter den Zuſammenhang dieſes erhabenſten menſchlichen
Gefühls, das ſich von keinem Raume einſchränken läßt, mit den
Erfahrungen des ärmſten unruhevoll in engem Kreiſe durch die
Natur ſeines Daſeins bewegten Menſchenherzens. Auf jener Ver-
bindung beruhte vordem die Anſchauung, welche die griechiſche
Wiſſenſchaft vom Kosmos hatte, und der künſtleriſche Aufbau eines
Gegenbildes dieſes Kosmos in der ſittlich-geſellſchaftlichen Welt,
wie ihn die Staatswiſſenſchaft der Alten entwarf. Nun ſoll die
Vollkommenheit der Gottheit ſelber mit Knechtsgeſtalt und Leiden
zuſammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: ſie ſind
im religiöſen Erlebniß eins. Das Vollkommene hat nicht nöthig,
im Glanz der Geſtirnwelt zu ſtrahlen und in Glück und Macht
ſich zu ſonnen. Gottes Reich iſt nicht von dieſer Welt. So hat
der Wille nun nicht mehr ſein Genüge in der Herſtellung eines
objektiven Thatbeſtandes, in dem ſichtbaren ſittlichen Kunſtwerk der
Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr
geht er hinter dieſes Alles als bloße Geſtalt der Welt, in ſich ſelber
zurück. Der Wille, welcher objektive Thatbeſtände in der Welt
geſtaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtſeins, der ſeine
Ziele angehören. Im Chriſtenthum erfährt der Wille ſeinen
eigenen meta phyſiſchen Charakter. Damit berühren wir die Gränze
unſerer hier dem Menſchlichen, Geſchichtlichen allein zugewandten
Betrachtungsweiſe.

Dieſe tiefe Veränderung im menſchlichen Seelenleben ſchließt
die Bedingungen in ſich, unter welchen die Schranken der
antiken Wiſſenſchaft durchbrochen werden konnten und
allmählich durchbrochen worden ſind.

Wiſſen war für den griechiſchen Geiſt Abbilden eines Objek-
tiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebniß zum Mittel-
punkt aller Intereſſen der neuen Gemeinden; dieſes iſt aber ein
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[316/0339] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. chriſtliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorſtellungen von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück des Lebens zerriſſen. Ja die Verbindung des Gottesbewußt- ſeins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt zurück hinter den Zuſammenhang dieſes erhabenſten menſchlichen Gefühls, das ſich von keinem Raume einſchränken läßt, mit den Erfahrungen des ärmſten unruhevoll in engem Kreiſe durch die Natur ſeines Daſeins bewegten Menſchenherzens. Auf jener Ver- bindung beruhte vordem die Anſchauung, welche die griechiſche Wiſſenſchaft vom Kosmos hatte, und der künſtleriſche Aufbau eines Gegenbildes dieſes Kosmos in der ſittlich-geſellſchaftlichen Welt, wie ihn die Staatswiſſenſchaft der Alten entwarf. Nun ſoll die Vollkommenheit der Gottheit ſelber mit Knechtsgeſtalt und Leiden zuſammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: ſie ſind im religiöſen Erlebniß eins. Das Vollkommene hat nicht nöthig, im Glanz der Geſtirnwelt zu ſtrahlen und in Glück und Macht ſich zu ſonnen. Gottes Reich iſt nicht von dieſer Welt. So hat der Wille nun nicht mehr ſein Genüge in der Herſtellung eines objektiven Thatbeſtandes, in dem ſichtbaren ſittlichen Kunſtwerk der Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr geht er hinter dieſes Alles als bloße Geſtalt der Welt, in ſich ſelber zurück. Der Wille, welcher objektive Thatbeſtände in der Welt geſtaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtſeins, der ſeine Ziele angehören. Im Chriſtenthum erfährt der Wille ſeinen eigenen meta phyſiſchen Charakter. Damit berühren wir die Gränze unſerer hier dem Menſchlichen, Geſchichtlichen allein zugewandten Betrachtungsweiſe. Dieſe tiefe Veränderung im menſchlichen Seelenleben ſchließt die Bedingungen in ſich, unter welchen die Schranken der antiken Wiſſenſchaft durchbrochen werden konnten und allmählich durchbrochen worden ſind. Wiſſen war für den griechiſchen Geiſt Abbilden eines Objek- tiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebniß zum Mittel- punkt aller Intereſſen der neuen Gemeinden; dieſes iſt aber ein einfaches Innewerden deſſen, was in der Perſon, im Selbſt-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/339>, abgerufen am 22.11.2024.