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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

Geschichtliche Lage und Art der persönlichen Genialität be-
dingen so die Stellung des Augustinus zwischen Er-
kenntnißtheorie
und Metaphysik. Haben sie dem Philo-
sophen die Konsequenz versagt, so haben sie dafür den Schrift-
steller durch eine weltgeschichtliche Wirkung entschädigt. Denn in-
dem er die volle und ausschließliche Realität der Thatsachen des
Bewußtseins erkannte, diese Thatsachen aber nicht einer zusammen-
hängenden Zergliederung unterwarf, sondern denselben in seiner
Imagination, im Weben der reichsten Seelenkräfte gleichsam unter-
lag: machte ihn dies zwar zu einem fragmentarischen Philo-
sophen, aber zugleich zu einem der größten Schriftsteller aller
Zeiten.

Die griechische Wissenschaft hatte eine Erkenntniß des Kosmos
gesucht und im Skepticismus mit der Einsicht geendigt, daß jede
Erkenntniß von der objektiven Unterlage der Phänomene unmög-
lich sei. Hieraus hatten die Skeptiker voreilig die Unmöglichkeit
alles Wissens erschlossen. Zwar leugneten sie nicht die Wahrheit
der Zustände, welche wir in uns vorfinden; aber sie vernach-
lässigten dieselbe als etwas für uns Werthloses. Augustinus
zog aus der Veränderung der Richtung der Interessen, welche
das Christenthum durchgesetzt hatte, die erkenntnißtheoretische Kon-
sequenz. Weder die Einfälle Tertullian's noch der einer neu-
platonischen Zeitbildung hingegebene Synkretismus des Clemens
oder Origenes hatten das vermocht. Und in Folge hiervon bildet
Augustinus ein selbständiges Glied in dem so langsamen und
schweren geschichtlichen Fortgang von der objektiven Metaphysik zu
der Erkenntnißtheorie.

Aber er verdankt die Stellung, welche er so einnimmt, nicht
seinem zergliedernden Vermögen, sondern der Genialität seines per-
sönlichen Lebensgefühls. Und dieser Thatbestand macht sich in einer
doppelten Richtung geltend.

Augustinus ist gänzlich frei von der Neigung der Metaphy-
siker, der Wirklichkeit die Nothwendigkeit des Gedankens zu sub-
stituiren, der vollen psychischen Thatsache den in ihr enthaltenen
Vorstellungsbestandtheil. Er verbleibt in dem Gefühl und der

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

Geſchichtliche Lage und Art der perſönlichen Genialität be-
dingen ſo die Stellung des Auguſtinus zwiſchen Er-
kenntnißtheorie
und Metaphyſik. Haben ſie dem Philo-
ſophen die Konſequenz verſagt, ſo haben ſie dafür den Schrift-
ſteller durch eine weltgeſchichtliche Wirkung entſchädigt. Denn in-
dem er die volle und ausſchließliche Realität der Thatſachen des
Bewußtſeins erkannte, dieſe Thatſachen aber nicht einer zuſammen-
hängenden Zergliederung unterwarf, ſondern denſelben in ſeiner
Imagination, im Weben der reichſten Seelenkräfte gleichſam unter-
lag: machte ihn dies zwar zu einem fragmentariſchen Philo-
ſophen, aber zugleich zu einem der größten Schriftſteller aller
Zeiten.

Die griechiſche Wiſſenſchaft hatte eine Erkenntniß des Kosmos
geſucht und im Skepticismus mit der Einſicht geendigt, daß jede
Erkenntniß von der objektiven Unterlage der Phänomene unmög-
lich ſei. Hieraus hatten die Skeptiker voreilig die Unmöglichkeit
alles Wiſſens erſchloſſen. Zwar leugneten ſie nicht die Wahrheit
der Zuſtände, welche wir in uns vorfinden; aber ſie vernach-
läſſigten dieſelbe als etwas für uns Werthloſes. Auguſtinus
zog aus der Veränderung der Richtung der Intereſſen, welche
das Chriſtenthum durchgeſetzt hatte, die erkenntnißtheoretiſche Kon-
ſequenz. Weder die Einfälle Tertullian’s noch der einer neu-
platoniſchen Zeitbildung hingegebene Synkretismus des Clemens
oder Origenes hatten das vermocht. Und in Folge hiervon bildet
Auguſtinus ein ſelbſtändiges Glied in dem ſo langſamen und
ſchweren geſchichtlichen Fortgang von der objektiven Metaphyſik zu
der Erkenntnißtheorie.

Aber er verdankt die Stellung, welche er ſo einnimmt, nicht
ſeinem zergliedernden Vermögen, ſondern der Genialität ſeines per-
ſönlichen Lebensgefühls. Und dieſer Thatbeſtand macht ſich in einer
doppelten Richtung geltend.

Auguſtinus iſt gänzlich frei von der Neigung der Metaphy-
ſiker, der Wirklichkeit die Nothwendigkeit des Gedankens zu ſub-
ſtituiren, der vollen pſychiſchen Thatſache den in ihr enthaltenen
Vorſtellungsbeſtandtheil. Er verbleibt in dem Gefühl und der

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[334/0357] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Geſchichtliche Lage und Art der perſönlichen Genialität be- dingen ſo die Stellung des Auguſtinus zwiſchen Er- kenntnißtheorie und Metaphyſik. Haben ſie dem Philo- ſophen die Konſequenz verſagt, ſo haben ſie dafür den Schrift- ſteller durch eine weltgeſchichtliche Wirkung entſchädigt. Denn in- dem er die volle und ausſchließliche Realität der Thatſachen des Bewußtſeins erkannte, dieſe Thatſachen aber nicht einer zuſammen- hängenden Zergliederung unterwarf, ſondern denſelben in ſeiner Imagination, im Weben der reichſten Seelenkräfte gleichſam unter- lag: machte ihn dies zwar zu einem fragmentariſchen Philo- ſophen, aber zugleich zu einem der größten Schriftſteller aller Zeiten. Die griechiſche Wiſſenſchaft hatte eine Erkenntniß des Kosmos geſucht und im Skepticismus mit der Einſicht geendigt, daß jede Erkenntniß von der objektiven Unterlage der Phänomene unmög- lich ſei. Hieraus hatten die Skeptiker voreilig die Unmöglichkeit alles Wiſſens erſchloſſen. Zwar leugneten ſie nicht die Wahrheit der Zuſtände, welche wir in uns vorfinden; aber ſie vernach- läſſigten dieſelbe als etwas für uns Werthloſes. Auguſtinus zog aus der Veränderung der Richtung der Intereſſen, welche das Chriſtenthum durchgeſetzt hatte, die erkenntnißtheoretiſche Kon- ſequenz. Weder die Einfälle Tertullian’s noch der einer neu- platoniſchen Zeitbildung hingegebene Synkretismus des Clemens oder Origenes hatten das vermocht. Und in Folge hiervon bildet Auguſtinus ein ſelbſtändiges Glied in dem ſo langſamen und ſchweren geſchichtlichen Fortgang von der objektiven Metaphyſik zu der Erkenntnißtheorie. Aber er verdankt die Stellung, welche er ſo einnimmt, nicht ſeinem zergliedernden Vermögen, ſondern der Genialität ſeines per- ſönlichen Lebensgefühls. Und dieſer Thatbeſtand macht ſich in einer doppelten Richtung geltend. Auguſtinus iſt gänzlich frei von der Neigung der Metaphy- ſiker, der Wirklichkeit die Nothwendigkeit des Gedankens zu ſub- ſtituiren, der vollen pſychiſchen Thatſache den in ihr enthaltenen Vorſtellungsbeſtandtheil. Er verbleibt in dem Gefühl und der

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/357>, abgerufen am 22.11.2024.