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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Charakter der mittelalterlichen Metaphysik.
Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der
Menschheit entstanden ist und unzerstörbar aus ihnen immer neu
hervorwächst. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natür-
lichen Weltansicht, wie ihn Aristoteles begründet hatte und die
Scholastik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Welt-
ordnung ein objektiver Zusammenhang ist, unauflösbar. Bald
bewirkte sie die Ausbildung von Satz und Gegensatz in den ver-
schiedenen Schulen, bald arbeitete sie in den einzelnen Systemen
selber, dieselben durch Widersprüche zersetzend. Sie gesellte sich nun
zu den Widersprüchen, an denen die Wissenschaft vom Kosmos und
die Theologie bereits litten, und so trat der allgemeine durch An-
tinomien bestimmte Charakter der mittelalterlichen
Metaphysik
immer klarer hervor. Er äußerte sich in der Form
ihrer Darstellung und löste jedes System in Quästionen auf, in
denen Satz und Gegensatz sich an allen Stellen bekämpften. Und
der Hauptwiderspruch kam an ganz verschiedenen Punkten des
mittelalterlichen Systems wie ein geheimer Schaden im Blute zum
Vorschein, in dem Streit zwischen dem Willen Gottes und seinem
Verstande, zwischen der ewigen Welt und der Schöpfung aus
Nichts, zwischen den ewigen Wahrheiten und der Oekonomie des
Heils. Ja er erstreckte sich in seinen Wirkungen schließlich in die
Konstruktion des großen gesellschaftlichen Dualismus der mittel-
alterlichen Welt.

Antinomie zwischen der Vorstellung des göttlichen
Intellekts und der Vorstellung des göttlichen
Willens.

Die Metaphysik als Vernunftwissenschaft, wie sie in Aristo-
teles ihren Abschluß gefunden, hatte die Gottheit als "Denken
des Denkens" bestimmt. In Aristoteles verkörperte sich für das
Mittelalter die Thesis, nach welcher die Welt, wie sie in der
äußeren Erfahrung gegeben ist, einen dem Denken angemessenen
Zusammenhang bildet, welcher als Gedankenmäßigkeit, Zusammen-
stimmung, Zweckmäßigkeit erkannt und auf eine höchste Intelligenz
zurückgeführt wird.


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Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik.
Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der
Menſchheit entſtanden iſt und unzerſtörbar aus ihnen immer neu
hervorwächſt. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natür-
lichen Weltanſicht, wie ihn Ariſtoteles begründet hatte und die
Scholaſtik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Welt-
ordnung ein objektiver Zuſammenhang iſt, unauflösbar. Bald
bewirkte ſie die Ausbildung von Satz und Gegenſatz in den ver-
ſchiedenen Schulen, bald arbeitete ſie in den einzelnen Syſtemen
ſelber, dieſelben durch Widerſprüche zerſetzend. Sie geſellte ſich nun
zu den Widerſprüchen, an denen die Wiſſenſchaft vom Kosmos und
die Theologie bereits litten, und ſo trat der allgemeine durch An-
tinomien beſtimmte Charakter der mittelalterlichen
Metaphyſik
immer klarer hervor. Er äußerte ſich in der Form
ihrer Darſtellung und löſte jedes Syſtem in Quäſtionen auf, in
denen Satz und Gegenſatz ſich an allen Stellen bekämpften. Und
der Hauptwiderſpruch kam an ganz verſchiedenen Punkten des
mittelalterlichen Syſtems wie ein geheimer Schaden im Blute zum
Vorſchein, in dem Streit zwiſchen dem Willen Gottes und ſeinem
Verſtande, zwiſchen der ewigen Welt und der Schöpfung aus
Nichts, zwiſchen den ewigen Wahrheiten und der Oekonomie des
Heils. Ja er erſtreckte ſich in ſeinen Wirkungen ſchließlich in die
Konſtruktion des großen geſellſchaftlichen Dualismus der mittel-
alterlichen Welt.

Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des göttlichen
Intellekts und der Vorſtellung des göttlichen
Willens.

Die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft, wie ſie in Ariſto-
teles ihren Abſchluß gefunden, hatte die Gottheit als „Denken
des Denkens“ beſtimmt. In Ariſtoteles verkörperte ſich für das
Mittelalter die Theſis, nach welcher die Welt, wie ſie in der
äußeren Erfahrung gegeben iſt, einen dem Denken angemeſſenen
Zuſammenhang bildet, welcher als Gedankenmäßigkeit, Zuſammen-
ſtimmung, Zweckmäßigkeit erkannt und auf eine höchſte Intelligenz
zurückgeführt wird.


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[403/0426] Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik. Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der Menſchheit entſtanden iſt und unzerſtörbar aus ihnen immer neu hervorwächſt. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natür- lichen Weltanſicht, wie ihn Ariſtoteles begründet hatte und die Scholaſtik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Welt- ordnung ein objektiver Zuſammenhang iſt, unauflösbar. Bald bewirkte ſie die Ausbildung von Satz und Gegenſatz in den ver- ſchiedenen Schulen, bald arbeitete ſie in den einzelnen Syſtemen ſelber, dieſelben durch Widerſprüche zerſetzend. Sie geſellte ſich nun zu den Widerſprüchen, an denen die Wiſſenſchaft vom Kosmos und die Theologie bereits litten, und ſo trat der allgemeine durch An- tinomien beſtimmte Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik immer klarer hervor. Er äußerte ſich in der Form ihrer Darſtellung und löſte jedes Syſtem in Quäſtionen auf, in denen Satz und Gegenſatz ſich an allen Stellen bekämpften. Und der Hauptwiderſpruch kam an ganz verſchiedenen Punkten des mittelalterlichen Syſtems wie ein geheimer Schaden im Blute zum Vorſchein, in dem Streit zwiſchen dem Willen Gottes und ſeinem Verſtande, zwiſchen der ewigen Welt und der Schöpfung aus Nichts, zwiſchen den ewigen Wahrheiten und der Oekonomie des Heils. Ja er erſtreckte ſich in ſeinen Wirkungen ſchließlich in die Konſtruktion des großen geſellſchaftlichen Dualismus der mittel- alterlichen Welt. Antinomie zwiſchen der Vorſtellung des göttlichen Intellekts und der Vorſtellung des göttlichen Willens. Die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft, wie ſie in Ariſto- teles ihren Abſchluß gefunden, hatte die Gottheit als „Denken des Denkens“ beſtimmt. In Ariſtoteles verkörperte ſich für das Mittelalter die Theſis, nach welcher die Welt, wie ſie in der äußeren Erfahrung gegeben iſt, einen dem Denken angemeſſenen Zuſammenhang bildet, welcher als Gedankenmäßigkeit, Zuſammen- ſtimmung, Zweckmäßigkeit erkannt und auf eine höchſte Intelligenz zurückgeführt wird. 26*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/426>, abgerufen am 22.11.2024.