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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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desselben, vermöge deren der Ablauf der geistigen neben dem der
körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgestellten
Uhren vergleichbar wäre, ist mit der Erfahrung so gut im Einklang
als eine Auffassung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund
annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreise als verschiedene
Erscheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geistigen
vom Naturzusammenhang ist also das Verhältniß, welchem gemäß
der allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen That-
bestände und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns
regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit
geistigen Thatbeständen und Veränderungen verbunden sind. So
sieht das Naturerkennen die Verkettung der Ursachen bis zu dem
psycho-physischen Leben hin wirken: hier entsteht eine Veränderung,
an welcher die Beziehung des Materiellen und Physischen sich der
ursächlichen Auffassung entzieht, und diese Veränderung ruft rück-
wärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In diesem
Zusammenhang schließt sich dem Experiment des Physiologen die
Bedeutung der Struktur des Nervensystems auf. Die verwirrenden
Erscheinungen des Lebens werden in eine klare Vorstellung der Ab-
hängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen
bis an den Menschen heran führt, diese alsdann durch die Pforten
der Sinnesorgane in das Nervensystem dringen, Empfindung, Vor-
stellen, Gefühl, Begehren entstehen und auf den Naturlauf zurück-
wirken. Die Lebenseinheit selbst, welche mit dem unmittelbaren Ge-
fühl unseres ungetheilten Daseins uns erfüllt, wird in ein System
von Beziehungen aufgelöst, die zwischen den Thatsachen unseres Be-
wußtseins und der Struktur sowie den Funktionen des Nerven-
systems empirisch festgestellt werden können: denn jede psychische
Aktion zeigt sich nur vermittelst des Nervensystems mit einer
Veränderung innerhalb unseres Körpers verbunden, und eine
solche ist ihrerseits nur vermittelst ihrer Wirkung auf das Nerven-
system von einem Wechsel unserer psychischen Zustände begleitet.

Aus dieser Zergliederung der psycho-physischen Lebenseinheiten
entspringt nun eine deutlichere Vorstellung der Abhängigkeit der-
selben von dem ganzen Zusammenhang der Natur, innerhalb dessen

Erſtes einleitendes Buch.
deſſelben, vermöge deren der Ablauf der geiſtigen neben dem der
körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgeſtellten
Uhren vergleichbar wäre, iſt mit der Erfahrung ſo gut im Einklang
als eine Auffaſſung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund
annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreiſe als verſchiedene
Erſcheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geiſtigen
vom Naturzuſammenhang iſt alſo das Verhältniß, welchem gemäß
der allgemeine Naturzuſammenhang diejenigen materiellen That-
beſtände und Veränderungen urſächlich bedingt, welche für uns
regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit
geiſtigen Thatbeſtänden und Veränderungen verbunden ſind. So
ſieht das Naturerkennen die Verkettung der Urſachen bis zu dem
pſycho-phyſiſchen Leben hin wirken: hier entſteht eine Veränderung,
an welcher die Beziehung des Materiellen und Phyſiſchen ſich der
urſächlichen Auffaſſung entzieht, und dieſe Veränderung ruft rück-
wärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In dieſem
Zuſammenhang ſchließt ſich dem Experiment des Phyſiologen die
Bedeutung der Struktur des Nervenſyſtems auf. Die verwirrenden
Erſcheinungen des Lebens werden in eine klare Vorſtellung der Ab-
hängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen
bis an den Menſchen heran führt, dieſe alsdann durch die Pforten
der Sinnesorgane in das Nervenſyſtem dringen, Empfindung, Vor-
ſtellen, Gefühl, Begehren entſtehen und auf den Naturlauf zurück-
wirken. Die Lebenseinheit ſelbſt, welche mit dem unmittelbaren Ge-
fühl unſeres ungetheilten Daſeins uns erfüllt, wird in ein Syſtem
von Beziehungen aufgelöſt, die zwiſchen den Thatſachen unſeres Be-
wußtſeins und der Struktur ſowie den Funktionen des Nerven-
ſyſtems empiriſch feſtgeſtellt werden können: denn jede pſychiſche
Aktion zeigt ſich nur vermittelſt des Nervenſyſtems mit einer
Veränderung innerhalb unſeres Körpers verbunden, und eine
ſolche iſt ihrerſeits nur vermittelſt ihrer Wirkung auf das Nerven-
ſyſtem von einem Wechſel unſerer pſychiſchen Zuſtände begleitet.

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entſpringt nun eine deutlichere Vorſtellung der Abhängigkeit der-
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[20/0043] Erſtes einleitendes Buch. deſſelben, vermöge deren der Ablauf der geiſtigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgeſtellten Uhren vergleichbar wäre, iſt mit der Erfahrung ſo gut im Einklang als eine Auffaſſung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreiſe als verſchiedene Erſcheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geiſtigen vom Naturzuſammenhang iſt alſo das Verhältniß, welchem gemäß der allgemeine Naturzuſammenhang diejenigen materiellen That- beſtände und Veränderungen urſächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geiſtigen Thatbeſtänden und Veränderungen verbunden ſind. So ſieht das Naturerkennen die Verkettung der Urſachen bis zu dem pſycho-phyſiſchen Leben hin wirken: hier entſteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Phyſiſchen ſich der urſächlichen Auffaſſung entzieht, und dieſe Veränderung ruft rück- wärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In dieſem Zuſammenhang ſchließt ſich dem Experiment des Phyſiologen die Bedeutung der Struktur des Nervenſyſtems auf. Die verwirrenden Erſcheinungen des Lebens werden in eine klare Vorſtellung der Ab- hängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen bis an den Menſchen heran führt, dieſe alsdann durch die Pforten der Sinnesorgane in das Nervenſyſtem dringen, Empfindung, Vor- ſtellen, Gefühl, Begehren entſtehen und auf den Naturlauf zurück- wirken. Die Lebenseinheit ſelbſt, welche mit dem unmittelbaren Ge- fühl unſeres ungetheilten Daſeins uns erfüllt, wird in ein Syſtem von Beziehungen aufgelöſt, die zwiſchen den Thatſachen unſeres Be- wußtſeins und der Struktur ſowie den Funktionen des Nerven- ſyſtems empiriſch feſtgeſtellt werden können: denn jede pſychiſche Aktion zeigt ſich nur vermittelſt des Nervenſyſtems mit einer Veränderung innerhalb unſeres Körpers verbunden, und eine ſolche iſt ihrerſeits nur vermittelſt ihrer Wirkung auf das Nerven- ſyſtem von einem Wechſel unſerer pſychiſchen Zuſtände begleitet. Aus dieſer Zergliederung der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten entſpringt nun eine deutlichere Vorſtellung der Abhängigkeit der- ſelben von dem ganzen Zuſammenhang der Natur, innerhalb deſſen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/43>, abgerufen am 21.11.2024.