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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Occam und die Theorie des Willens.
dem Fortgang der Metaphysik des christlichen Abendlandes ins-
besondere durch Occam die andere in ihre letzten Konsequenzen
fortgeführt1). Jene mußte im weiteren Verlauf in dem Panlo-
gismus endigen, diese mußte die Metaphysik zerstören und
der inneren Erfahrung sowie dem in ihr gegebenen Willen
Raum machen. Iene führt zu Spinoza und Hegel, diese zu den
Mystikern und Reformatoren. Indem aber in der Metaphysik
selber das Prinzip des Willens, ja der Willkür geltend gemacht
wird, zersetzt der hierin liegende Widerspruch zwischen der Form
und dem Inhalt die Metaphysik, deren Wesen deduktive Folge-
richtigkeit ist, und er erscheint in Occam und seinen Schülern als
Frivolität und als Flucht in ein supranaturales asylum ignoran-
tiae
, während zugleich ein tiefer Ernst in der Behauptung des
großen Prinzips der Willenspersönlichkeit und ihrer freien Macht
gegenüber aller Autorität und aller leeren Abstraktion in Occam
sich geltend macht.

Indem Occam so die Antithesis der Antinomie ebenso ein-
seitig entwickelte, wie Ibn Roschd die Thesis ausgebildet hatte,
empfing nunmehr der Nominalismus einen Lebens-
gehalt
. Dieser hatte in Roscellinus mit unfruchtbarer Negativität
die Begriffe, welche ein Allgemeines oder ein Ganzes aussprechen,
verneint, während gerade auf den letzteren die ganze theologische
Dogmatik als Lehre von der Oekonomie des Heils beruhte. Jetzt
wirkte das Prinzip der Erfahrung, welches bisher nur eine
unfruchtbare Erinnerung des Alterthums und ein todtes Spiel
des Verstandes gewesen war, positiv und aufbauend. Es hat in
Roger Bacon das Studium der Außenwelt, in Occam die selb-
ständige Betrachtung der inneren Erfahrung begründet. Occam
ist die mächtigste Denkerpersönlichkeit des Mittelalters seit Au-
gustinus. Wie er die Independenz des Willens verkündete, so
hat er sie auch kämpfend in seinem Leben dargestellt. Ihn be-

1) Die parallele Erscheinung im Morgenlande fehlt auch hier nicht.
Die Mutakalimun substituirten dem Kausalzusammenhang der Natur un-
mittelbare Einzelakte Gottes und führten so den Weltlauf als zufällig
auf den göttlichen Willen zurück.

Occam und die Theorie des Willens.
dem Fortgang der Metaphyſik des chriſtlichen Abendlandes ins-
beſondere durch Occam die andere in ihre letzten Konſequenzen
fortgeführt1). Jene mußte im weiteren Verlauf in dem Panlo-
gismus endigen, dieſe mußte die Metaphyſik zerſtören und
der inneren Erfahrung ſowie dem in ihr gegebenen Willen
Raum machen. Iene führt zu Spinoza und Hegel, dieſe zu den
Myſtikern und Reformatoren. Indem aber in der Metaphyſik
ſelber das Prinzip des Willens, ja der Willkür geltend gemacht
wird, zerſetzt der hierin liegende Widerſpruch zwiſchen der Form
und dem Inhalt die Metaphyſik, deren Weſen deduktive Folge-
richtigkeit iſt, und er erſcheint in Occam und ſeinen Schülern als
Frivolität und als Flucht in ein ſupranaturales asylum ignoran-
tiae
, während zugleich ein tiefer Ernſt in der Behauptung des
großen Prinzips der Willensperſönlichkeit und ihrer freien Macht
gegenüber aller Autorität und aller leeren Abſtraktion in Occam
ſich geltend macht.

Indem Occam ſo die Antitheſis der Antinomie ebenſo ein-
ſeitig entwickelte, wie Ibn Roſchd die Theſis ausgebildet hatte,
empfing nunmehr der Nominalismus einen Lebens-
gehalt
. Dieſer hatte in Roscellinus mit unfruchtbarer Negativität
die Begriffe, welche ein Allgemeines oder ein Ganzes ausſprechen,
verneint, während gerade auf den letzteren die ganze theologiſche
Dogmatik als Lehre von der Oekonomie des Heils beruhte. Jetzt
wirkte das Prinzip der Erfahrung, welches bisher nur eine
unfruchtbare Erinnerung des Alterthums und ein todtes Spiel
des Verſtandes geweſen war, poſitiv und aufbauend. Es hat in
Roger Bacon das Studium der Außenwelt, in Occam die ſelb-
ſtändige Betrachtung der inneren Erfahrung begründet. Occam
iſt die mächtigſte Denkerperſönlichkeit des Mittelalters ſeit Au-
guſtinus. Wie er die Independenz des Willens verkündete, ſo
hat er ſie auch kämpfend in ſeinem Leben dargeſtellt. Ihn be-

1) Die parallele Erſcheinung im Morgenlande fehlt auch hier nicht.
Die Mutakalimun ſubſtituirten dem Kauſalzuſammenhang der Natur un-
mittelbare Einzelakte Gottes und führten ſo den Weltlauf als zufällig
auf den göttlichen Willen zurück.
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[411/0434] Occam und die Theorie des Willens. dem Fortgang der Metaphyſik des chriſtlichen Abendlandes ins- beſondere durch Occam die andere in ihre letzten Konſequenzen fortgeführt 1). Jene mußte im weiteren Verlauf in dem Panlo- gismus endigen, dieſe mußte die Metaphyſik zerſtören und der inneren Erfahrung ſowie dem in ihr gegebenen Willen Raum machen. Iene führt zu Spinoza und Hegel, dieſe zu den Myſtikern und Reformatoren. Indem aber in der Metaphyſik ſelber das Prinzip des Willens, ja der Willkür geltend gemacht wird, zerſetzt der hierin liegende Widerſpruch zwiſchen der Form und dem Inhalt die Metaphyſik, deren Weſen deduktive Folge- richtigkeit iſt, und er erſcheint in Occam und ſeinen Schülern als Frivolität und als Flucht in ein ſupranaturales asylum ignoran- tiae, während zugleich ein tiefer Ernſt in der Behauptung des großen Prinzips der Willensperſönlichkeit und ihrer freien Macht gegenüber aller Autorität und aller leeren Abſtraktion in Occam ſich geltend macht. Indem Occam ſo die Antitheſis der Antinomie ebenſo ein- ſeitig entwickelte, wie Ibn Roſchd die Theſis ausgebildet hatte, empfing nunmehr der Nominalismus einen Lebens- gehalt. Dieſer hatte in Roscellinus mit unfruchtbarer Negativität die Begriffe, welche ein Allgemeines oder ein Ganzes ausſprechen, verneint, während gerade auf den letzteren die ganze theologiſche Dogmatik als Lehre von der Oekonomie des Heils beruhte. Jetzt wirkte das Prinzip der Erfahrung, welches bisher nur eine unfruchtbare Erinnerung des Alterthums und ein todtes Spiel des Verſtandes geweſen war, poſitiv und aufbauend. Es hat in Roger Bacon das Studium der Außenwelt, in Occam die ſelb- ſtändige Betrachtung der inneren Erfahrung begründet. Occam iſt die mächtigſte Denkerperſönlichkeit des Mittelalters ſeit Au- guſtinus. Wie er die Independenz des Willens verkündete, ſo hat er ſie auch kämpfend in ſeinem Leben dargeſtellt. Ihn be- 1) Die parallele Erſcheinung im Morgenlande fehlt auch hier nicht. Die Mutakalimun ſubſtituirten dem Kauſalzuſammenhang der Natur un- mittelbare Einzelakte Gottes und führten ſo den Weltlauf als zufällig auf den göttlichen Willen zurück.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/434>, abgerufen am 22.11.2024.