Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. Zusammenhang der Welt findet sich gegenüber den freien Willenin Gott, dessen Ausdruck die geschichtliche Welt, die Schöpfung aus Nichts und die moralisch-religiöse Ordnung der Gesellschaft sind. Hier begegnen wir der ersten, noch unvollkommenen Form eines Gegensatzes, welcher die Metaphysik von innen zerstören und eine selbständige Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft gegenüber- stellen mußte. Ja Kant's Kritik der Metaphysik empfing ihre Richtung durch diese Aufgabe, den nothwendigen Kausalzusammen- hang mit der moralischen Welt zusammenzudenken. Oder wie sollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel- 1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas ist eben da-
durch voluntas, daß eine ratio für den Zusammenhang, aus welchem der Willensakt hervorgeht, nicht aufgestellt werden kann, vgl. ebds. II dist. 1 qu. 2. Die Unterscheidung eines ersten und zweiten Verstandes in Gott (ebds. I dist. 39) löst die so entstehende Antinomie nicht auf. Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willenin Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber- ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen- hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken. Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel- 1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas iſt eben da-
durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist. 1 qu. 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott (ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0439" n="416"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen<lb/> in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung<lb/> aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft<lb/> ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form<lb/> eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und<lb/> eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber-<lb/> ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre<lb/> Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen-<lb/> hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken.</p><lb/> <p>Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel-<lb/> thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken-<lb/> den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der<lb/> lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich<lb/> richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge-<lb/> ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag<lb/> dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er<lb/> erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher<lb/> auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können<note place="foot" n="1)">Duns Scotus <hi rendition="#aq">in sent. I. dist. 8 qu.</hi> 4. 5. Die <hi rendition="#aq">voluntas</hi> iſt eben da-<lb/> durch <hi rendition="#aq">voluntas</hi>, daß eine <hi rendition="#aq">ratio</hi> für den Zuſammenhang, aus welchem<lb/> der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. <hi rendition="#aq">II dist.<lb/> 1 qu.</hi> 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott<lb/> (ebdſ. <hi rendition="#aq">I dist.</hi> 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf.</note>, und da-<lb/> mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit<lb/> aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu-<lb/> ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver-<lb/> ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen,<lb/> in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir<lb/> eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete<lb/> Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel-<lb/> bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große,<lb/> treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in<lb/> unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge-<lb/> geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende<lb/> Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [416/0439]
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen
in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung
aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft
ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form
eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und
eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber-
ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre
Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen-
hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken.
Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel-
thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken-
den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der
lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich
richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge-
ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag
dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er
erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher
auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können 1), und da-
mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit
aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu-
ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver-
ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen,
in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir
eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete
Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel-
bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große,
treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in
unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge-
geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende
Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider-
1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas iſt eben da-
durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem
der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist.
1 qu. 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott
(ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/439 |
Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/439>, abgerufen am 17.06.2024. |