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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das reale Band der kirchlichen Organisation.
Kirche, die Inkorporation des Einzelnen in die Kirche stattfindet1).
Eine weitere Unterstützung empfängt die Idee von dem realen
Bande, welches die Kirche zusammenhält, durch die Vorstellung
von einer Uebertragung thatsächlicher Art, vermöge deren in den
Weihen Kräfte der übersinnlichen Welt auf den Klerus von oben
übergehen, ja gleichsam in Stufen abwärts strömen; so entspringt
mit der Ordination die von den Laien unterscheidende geistliche
Befähigung, vermöge deren der Kleriker seine Funktionen übt. Auf
diese Weise empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysti-
cum Christi
eine sinnliche Vorstellbarkeit. Da aber zugleich diese
Kirche zu einer civitas Dei, einem staatähnlichen Ganzen wird,
welches Träger ausgedehnter Machtbefugnisse ist, wird der Begriff
der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf diesen politischen
Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben
wirkende Geist als Träger von Machtbefugnissen erscheint, welche
durch seinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem
Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieser
Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem be-
stimmten materiellen Umfang und innerhalb eines bestimmten
räumlichen Bezirks auf Grund des ständig ertheilten Auftrags
auszuüben. Die Machtbefugnisse der Kirche innerhalb der Ge-
sellschaft sind einerseits, als Machtbefugnisse, durch Rechtssätze
darstellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanonischen
Rechte, gegliedert, und andrerseits haben sie, als von Gott
stammend, die höchste Geltung in der menschlichen Gesellschaft.
So entstand die Anschauung der aus Haupt und Gliedern be-
stehenden Gesammtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper,
die aus der transscendenten Welt auf sie übertragene, eine gött-
liche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieses
Körpers verwirklicht sie den höchsten Zweck mit den höchsten
Machtbefugnissen; wie mit diesem Zweck verglichen alle die In-

1) Nach Aelteren Augustinus serm. 57 c. 7; serm. 227 und 272; de
civ. Dei XXI c. 19
ff.

Das reale Band der kirchlichen Organiſation.
Kirche, die Inkorporation des Einzelnen in die Kirche ſtattfindet1).
Eine weitere Unterſtützung empfängt die Idee von dem realen
Bande, welches die Kirche zuſammenhält, durch die Vorſtellung
von einer Uebertragung thatſächlicher Art, vermöge deren in den
Weihen Kräfte der überſinnlichen Welt auf den Klerus von oben
übergehen, ja gleichſam in Stufen abwärts ſtrömen; ſo entſpringt
mit der Ordination die von den Laien unterſcheidende geiſtliche
Befähigung, vermöge deren der Kleriker ſeine Funktionen übt. Auf
dieſe Weiſe empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysti-
cum Christi
eine ſinnliche Vorſtellbarkeit. Da aber zugleich dieſe
Kirche zu einer civitas Dei, einem ſtaatähnlichen Ganzen wird,
welches Träger ausgedehnter Machtbefugniſſe iſt, wird der Begriff
der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf dieſen politiſchen
Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben
wirkende Geiſt als Träger von Machtbefugniſſen erſcheint, welche
durch ſeinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem
Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieſer
Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem be-
ſtimmten materiellen Umfang und innerhalb eines beſtimmten
räumlichen Bezirks auf Grund des ſtändig ertheilten Auftrags
auszuüben. Die Machtbefugniſſe der Kirche innerhalb der Ge-
ſellſchaft ſind einerſeits, als Machtbefugniſſe, durch Rechtsſätze
darſtellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanoniſchen
Rechte, gegliedert, und andrerſeits haben ſie, als von Gott
ſtammend, die höchſte Geltung in der menſchlichen Geſellſchaft.
So entſtand die Anſchauung der aus Haupt und Gliedern be-
ſtehenden Geſammtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper,
die aus der transſcendenten Welt auf ſie übertragene, eine gött-
liche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieſes
Körpers verwirklicht ſie den höchſten Zweck mit den höchſten
Machtbefugniſſen; wie mit dieſem Zweck verglichen alle die In-

1) Nach Aelteren Auguſtinus serm. 57 c. 7; serm. 227 und 272; de
civ. Dei XXI c. 19
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[431/0454] Das reale Band der kirchlichen Organiſation. Kirche, die Inkorporation des Einzelnen in die Kirche ſtattfindet 1). Eine weitere Unterſtützung empfängt die Idee von dem realen Bande, welches die Kirche zuſammenhält, durch die Vorſtellung von einer Uebertragung thatſächlicher Art, vermöge deren in den Weihen Kräfte der überſinnlichen Welt auf den Klerus von oben übergehen, ja gleichſam in Stufen abwärts ſtrömen; ſo entſpringt mit der Ordination die von den Laien unterſcheidende geiſtliche Befähigung, vermöge deren der Kleriker ſeine Funktionen übt. Auf dieſe Weiſe empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysti- cum Christi eine ſinnliche Vorſtellbarkeit. Da aber zugleich dieſe Kirche zu einer civitas Dei, einem ſtaatähnlichen Ganzen wird, welches Träger ausgedehnter Machtbefugniſſe iſt, wird der Begriff der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf dieſen politiſchen Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben wirkende Geiſt als Träger von Machtbefugniſſen erſcheint, welche durch ſeinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieſer Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem be- ſtimmten materiellen Umfang und innerhalb eines beſtimmten räumlichen Bezirks auf Grund des ſtändig ertheilten Auftrags auszuüben. Die Machtbefugniſſe der Kirche innerhalb der Ge- ſellſchaft ſind einerſeits, als Machtbefugniſſe, durch Rechtsſätze darſtellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanoniſchen Rechte, gegliedert, und andrerſeits haben ſie, als von Gott ſtammend, die höchſte Geltung in der menſchlichen Geſellſchaft. So entſtand die Anſchauung der aus Haupt und Gliedern be- ſtehenden Geſammtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper, die aus der transſcendenten Welt auf ſie übertragene, eine gött- liche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieſes Körpers verwirklicht ſie den höchſten Zweck mit den höchſten Machtbefugniſſen; wie mit dieſem Zweck verglichen alle die In- 1) Nach Aelteren Auguſtinus serm. 57 c. 7; serm. 227 und 272; de civ. Dei XXI c. 19 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/454>, abgerufen am 22.11.2024.