Aber das gerade gab und erhielt dieser theokratischen Gesell- schaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke sich mit den mannig- fachsten Elementen verband; vom Alterthum her mit den Begriffen der griechischen Philosophie und des römischen Rechts sowie der Thatsache des römischen Kaiserthums; von dem Leben der ger- manischen Völker her mit rechtlichen und politischen Ideen und Institutionen. Hier war ein weltlicher Vorstellungskreis begründet, welcher theils von dem theokratischen System unter- worfen wurde und so mit ihm verschmolz, theils demselben ent- gegenwirkte.
Als das römische Imperium noch aufrecht stand, wenn auch von den anstürmenden germanischen Barbaren bereits er- schüttert, schrieb Augustinus sein Werk über den Staat Gottes, in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüber stellte. Nach diesem Werke ist das römische Weltreich eine Repräsentation der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigsten Stadium. Die Römer haben von Gott die Weltherrschaft empfangen, weil sie den höchsten irdischen Leidenschaften, vor allem der Begierde des Nachruhms, "durch welchen sie auch nach dem Tode gleich- sam fortleben wollten", alle niederen Leidenschaften unterordneten; ihre Aufopferung für den irdischen Staat ist den Christen ein Vorbild der Aufopferung, welche sie dem himmlischen schuldig sind1). Der Gedanke des römischen Weltreiches war nach den staatsphilosophischen Erörterungen des Polybius in der geschicht- lichen Literatur der Kaiserzeit selbst durch die dürftigen Hand- bücher eines Florus und Eutrop befestigt worden; Augustinus bestimmte nun in seiner Konstruktion die Bedeutung, die dem römischen Weltreich im Plan der Vorsehung zukomme, und zu- gleich deren Grenze, wie er sie vom Standpunkte des Christenthums aus einzusehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiserliche Krone dem großen Germanenkönig auf das Haupt setzte, trat der Gedanke der römischen Weltmonarchie in ein näheres Verhältniß zu dem Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Christenheit.
1) Augustinus de civ. Dei V c. 12 ff.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Aber das gerade gab und erhielt dieſer theokratiſchen Geſell- ſchaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke ſich mit den mannig- fachſten Elementen verband; vom Alterthum her mit den Begriffen der griechiſchen Philoſophie und des römiſchen Rechts ſowie der Thatſache des römiſchen Kaiſerthums; von dem Leben der ger- maniſchen Völker her mit rechtlichen und politiſchen Ideen und Inſtitutionen. Hier war ein weltlicher Vorſtellungskreis begründet, welcher theils von dem theokratiſchen Syſtem unter- worfen wurde und ſo mit ihm verſchmolz, theils demſelben ent- gegenwirkte.
Als das römiſche Imperium noch aufrecht ſtand, wenn auch von den anſtürmenden germaniſchen Barbaren bereits er- ſchüttert, ſchrieb Auguſtinus ſein Werk über den Staat Gottes, in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüber ſtellte. Nach dieſem Werke iſt das römiſche Weltreich eine Repräſentation der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigſten Stadium. Die Römer haben von Gott die Weltherrſchaft empfangen, weil ſie den höchſten irdiſchen Leidenſchaften, vor allem der Begierde des Nachruhms, „durch welchen ſie auch nach dem Tode gleich- ſam fortleben wollten“, alle niederen Leidenſchaften unterordneten; ihre Aufopferung für den irdiſchen Staat iſt den Chriſten ein Vorbild der Aufopferung, welche ſie dem himmliſchen ſchuldig ſind1). Der Gedanke des römiſchen Weltreiches war nach den ſtaatsphiloſophiſchen Erörterungen des Polybius in der geſchicht- lichen Literatur der Kaiſerzeit ſelbſt durch die dürftigen Hand- bücher eines Florus und Eutrop befeſtigt worden; Auguſtinus beſtimmte nun in ſeiner Konſtruktion die Bedeutung, die dem römiſchen Weltreich im Plan der Vorſehung zukomme, und zu- gleich deren Grenze, wie er ſie vom Standpunkte des Chriſtenthums aus einzuſehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiſerliche Krone dem großen Germanenkönig auf das Haupt ſetzte, trat der Gedanke der römiſchen Weltmonarchie in ein näheres Verhältniß zu dem Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Chriſtenheit.
1) Auguſtinus de civ. Dei V c. 12 ff.
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Aber das gerade gab und erhielt dieſer theokratiſchen Geſell-
ſchaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke ſich mit den mannig-
fachſten Elementen verband; vom Alterthum her mit den Begriffen
der griechiſchen Philoſophie und des römiſchen Rechts ſowie der
Thatſache des römiſchen Kaiſerthums; von dem Leben der ger-
maniſchen Völker her mit rechtlichen und politiſchen Ideen und
Inſtitutionen. Hier war ein weltlicher Vorſtellungskreis
begründet, welcher theils von dem theokratiſchen Syſtem unter-
worfen wurde und ſo mit ihm verſchmolz, theils demſelben ent-
gegenwirkte.
Als das römiſche Imperium noch aufrecht ſtand, wenn
auch von den anſtürmenden germaniſchen Barbaren bereits er-
ſchüttert, ſchrieb Auguſtinus ſein Werk über den Staat Gottes,
in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüber ſtellte.
Nach dieſem Werke iſt das römiſche Weltreich eine Repräſentation
der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigſten Stadium.
Die Römer haben von Gott die Weltherrſchaft empfangen, weil
ſie den höchſten irdiſchen Leidenſchaften, vor allem der Begierde
des Nachruhms, „durch welchen ſie auch nach dem Tode gleich-
ſam fortleben wollten“, alle niederen Leidenſchaften unterordneten;
ihre Aufopferung für den irdiſchen Staat iſt den Chriſten ein
Vorbild der Aufopferung, welche ſie dem himmliſchen ſchuldig
ſind 1). Der Gedanke des römiſchen Weltreiches war nach den
ſtaatsphiloſophiſchen Erörterungen des Polybius in der geſchicht-
lichen Literatur der Kaiſerzeit ſelbſt durch die dürftigen Hand-
bücher eines Florus und Eutrop befeſtigt worden; Auguſtinus
beſtimmte nun in ſeiner Konſtruktion die Bedeutung, die dem
römiſchen Weltreich im Plan der Vorſehung zukomme, und zu-
gleich deren Grenze, wie er ſie vom Standpunkte des Chriſtenthums
aus einzuſehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiſerliche Krone
dem großen Germanenkönig auf das Haupt ſetzte, trat der Gedanke
der römiſchen Weltmonarchie in ein näheres Verhältniß zu dem
Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Chriſtenheit.
1) Auguſtinus de civ. Dei V c. 12 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/457>, abgerufen am 23.11.2024.
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