Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf sie gegründete Bestimmung des Verhältnisses.
überall Erkenntnisse beider Classen. Erkenntnisse der Naturwissen-
schaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und
zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zwie-
fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben
bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig
mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material
des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur-
gesetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der
musikalischen Theorie abgeleitet, und wiederum ist das Genie der
Sprache oder Musik an diese Naturgesetze gebunden, und das
Studium seiner Leistungen ist daher bedingt durch das Verständniß
dieser Abhängigkeit.

Es kann an diesem Punkte weiter eingesehen werden, daß die
Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von
der Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang
die Grundlage für das Studium der geistigen Thatsachen bilden.
Wie die Entwicklung des einzelnen Menschen, so ist auch die Aus-
breitung des Menschengeschlechts über das Erdganze und die Ge-
staltung seiner Schicksale in der Geschichte durch den ganzen kosmischen
Zusammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbestandtheil
aller Geschichte, da diese als politische es mit dem Willen von
Staaten zu thun hat, dieser aber in Waffen auftritt und sich durch
dieselben durchsetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erster Linie
von der Erkenntniß des Physischen ab, welches für die streitenden
Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln
der physischen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde
unseren Willen aufzuzwingen. Dies schließt in sich, daß der
Gegner auf der Linie bis zur Wehrlosigkeit, welche das theoretische
Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu
dem Punkte hingezwungen werde, an welchem seine Lage nach-
theiliger ist als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur
mit einer nachtheiligeren vertauscht werden kann. In dieser großen
Rechnung sind also die für die Wissenschaft wichtigsten, sie zumeist
beschäftigenden Zahlen die physischen Bedingungen und Mittel,
während über die psychischen Faktoren sehr wenig zu sagen ist.


Auf ſie gegründete Beſtimmung des Verhältniſſes.
überall Erkenntniſſe beider Claſſen. Erkenntniſſe der Naturwiſſen-
ſchaften vermiſchen ſich mit denen der Geiſteswiſſenſchaften. Und
zwar verwebt ſich in dieſem Zuſammenhang, gemäß der zwie-
fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geiſtige Leben
bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig
mit der Feſtſtellung des Einfluſſes, welchen dieſelbe als Material
des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur-
geſetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der
muſikaliſchen Theorie abgeleitet, und wiederum iſt das Genie der
Sprache oder Muſik an dieſe Naturgeſetze gebunden, und das
Studium ſeiner Leiſtungen iſt daher bedingt durch das Verſtändniß
dieſer Abhängigkeit.

Es kann an dieſem Punkte weiter eingeſehen werden, daß die
Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von
der Naturwiſſenſchaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang
die Grundlage für das Studium der geiſtigen Thatſachen bilden.
Wie die Entwicklung des einzelnen Menſchen, ſo iſt auch die Aus-
breitung des Menſchengeſchlechts über das Erdganze und die Ge-
ſtaltung ſeiner Schickſale in der Geſchichte durch den ganzen kosmiſchen
Zuſammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbeſtandtheil
aller Geſchichte, da dieſe als politiſche es mit dem Willen von
Staaten zu thun hat, dieſer aber in Waffen auftritt und ſich durch
dieſelben durchſetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erſter Linie
von der Erkenntniß des Phyſiſchen ab, welches für die ſtreitenden
Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln
der phyſiſchen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde
unſeren Willen aufzuzwingen. Dies ſchließt in ſich, daß der
Gegner auf der Linie bis zur Wehrloſigkeit, welche das theoretiſche
Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu
dem Punkte hingezwungen werde, an welchem ſeine Lage nach-
theiliger iſt als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur
mit einer nachtheiligeren vertauſcht werden kann. In dieſer großen
Rechnung ſind alſo die für die Wiſſenſchaft wichtigſten, ſie zumeiſt
beſchäftigenden Zahlen die phyſiſchen Bedingungen und Mittel,
während über die pſychiſchen Faktoren ſehr wenig zu ſagen iſt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0046" n="23"/><fw place="top" type="header">Auf &#x017F;ie gegründete Be&#x017F;timmung des Verhältni&#x017F;&#x017F;es.</fw><lb/>
überall Erkenntni&#x017F;&#x017F;e beider Cla&#x017F;&#x017F;en. Erkenntni&#x017F;&#x017F;e der Naturwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaften vermi&#x017F;chen &#x017F;ich mit denen der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften. Und<lb/>
zwar verwebt &#x017F;ich in die&#x017F;em Zu&#x017F;ammenhang, gemäß der zwie-<lb/>
fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das gei&#x017F;tige Leben<lb/>
bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig<lb/>
mit der Fe&#x017F;t&#x017F;tellung des Einflu&#x017F;&#x017F;es, welchen die&#x017F;elbe als Material<lb/>
des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur-<lb/>
ge&#x017F;etze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Theorie abgeleitet, und wiederum i&#x017F;t das Genie der<lb/>
Sprache oder Mu&#x017F;ik an die&#x017F;e Naturge&#x017F;etze gebunden, und das<lb/>
Studium &#x017F;einer Lei&#x017F;tungen i&#x017F;t daher bedingt durch das Ver&#x017F;tändniß<lb/>
die&#x017F;er Abhängigkeit.</p><lb/>
          <p>Es kann an die&#x017F;em Punkte weiter einge&#x017F;ehen werden, daß die<lb/>
Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von<lb/>
der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang<lb/>
die Grundlage für das Studium der gei&#x017F;tigen That&#x017F;achen bilden.<lb/>
Wie die Entwicklung des einzelnen Men&#x017F;chen, &#x017F;o i&#x017F;t auch die Aus-<lb/>
breitung des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts über das Erdganze und die Ge-<lb/>
&#x017F;taltung &#x017F;einer Schick&#x017F;ale in der Ge&#x017F;chichte durch den ganzen kosmi&#x017F;chen<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbe&#x017F;tandtheil<lb/>
aller Ge&#x017F;chichte, da die&#x017F;e als politi&#x017F;che es mit dem Willen von<lb/>
Staaten zu thun hat, die&#x017F;er aber in Waffen auftritt und &#x017F;ich durch<lb/>
die&#x017F;elben durch&#x017F;etzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in er&#x017F;ter Linie<lb/>
von der Erkenntniß des Phy&#x017F;i&#x017F;chen ab, welches für die &#x017F;treitenden<lb/>
Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln<lb/>
der phy&#x017F;i&#x017F;chen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde<lb/>
un&#x017F;eren Willen aufzuzwingen. Dies &#x017F;chließt in &#x017F;ich, daß der<lb/>
Gegner auf der Linie bis zur Wehrlo&#x017F;igkeit, welche das theoreti&#x017F;che<lb/>
Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu<lb/>
dem Punkte hingezwungen werde, an welchem &#x017F;eine Lage nach-<lb/>
theiliger i&#x017F;t als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur<lb/>
mit einer nachtheiligeren vertau&#x017F;cht werden kann. In die&#x017F;er großen<lb/>
Rechnung &#x017F;ind al&#x017F;o die für die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft wichtig&#x017F;ten, &#x017F;ie zumei&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;chäftigenden Zahlen die phy&#x017F;i&#x017F;chen Bedingungen und Mittel,<lb/>
während über die p&#x017F;ychi&#x017F;chen Faktoren &#x017F;ehr wenig zu &#x017F;agen i&#x017F;t.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0046] Auf ſie gegründete Beſtimmung des Verhältniſſes. überall Erkenntniſſe beider Claſſen. Erkenntniſſe der Naturwiſſen- ſchaften vermiſchen ſich mit denen der Geiſteswiſſenſchaften. Und zwar verwebt ſich in dieſem Zuſammenhang, gemäß der zwie- fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geiſtige Leben bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feſtſtellung des Einfluſſes, welchen dieſelbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur- geſetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der muſikaliſchen Theorie abgeleitet, und wiederum iſt das Genie der Sprache oder Muſik an dieſe Naturgeſetze gebunden, und das Studium ſeiner Leiſtungen iſt daher bedingt durch das Verſtändniß dieſer Abhängigkeit. Es kann an dieſem Punkte weiter eingeſehen werden, daß die Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwiſſenſchaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geiſtigen Thatſachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menſchen, ſo iſt auch die Aus- breitung des Menſchengeſchlechts über das Erdganze und die Ge- ſtaltung ſeiner Schickſale in der Geſchichte durch den ganzen kosmiſchen Zuſammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbeſtandtheil aller Geſchichte, da dieſe als politiſche es mit dem Willen von Staaten zu thun hat, dieſer aber in Waffen auftritt und ſich durch dieſelben durchſetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erſter Linie von der Erkenntniß des Phyſiſchen ab, welches für die ſtreitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der phyſiſchen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde unſeren Willen aufzuzwingen. Dies ſchließt in ſich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrloſigkeit, welche das theoretiſche Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu dem Punkte hingezwungen werde, an welchem ſeine Lage nach- theiliger iſt als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachtheiligeren vertauſcht werden kann. In dieſer großen Rechnung ſind alſo die für die Wiſſenſchaft wichtigſten, ſie zumeiſt beſchäftigenden Zahlen die phyſiſchen Bedingungen und Mittel, während über die pſychiſchen Faktoren ſehr wenig zu ſagen iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/46
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/46>, abgerufen am 21.11.2024.