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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Naturrechtliche Konstruktion des Staats von den Einzelwillen aus.
eine künftige Zeit, zunächst aber hatte sie während des Mittelalters
die Anpassung desselben an die anderen gesellschaftlichen Ideen
der Zeit zur Folge. Erst in einem Marsilius von Padua löst
dieser radikale Standpunkt sich von den anderen gesellschaftlichen
Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung
der modernen politischen Ideen. Die volle Machtentfaltung des
Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem
Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der Punkt in
der Entwicklung der neueren Gesellschaft erreicht, an welchem
mit der Souveränität der Individuen Ernst gemacht werden
konnte, entsprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechischen
Gesellschaft, an dem das Naturrecht der Sophisten sich Geltung
verschafft hatte 1).

So fand die theokratische Gesellschaftslehre in der naturrecht-
lichen ihre Grenze, und diese letztere ihrerseits entbehrte noch der
generellen Fassung und der Hilfsmittel der Analysis, welche ihr
eine zureichende Erklärung der Gesellschaft ermöglicht hätten.

Wir überblicken und prüfen schließlich die Verbindung der
entwickelten Sätze in dieser theokratischen Metaphysik der Gesell-
schaft. -- Diese Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß
sie von dem umfassenden Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens
der Menschheit ausging und jeder Satz über die Befugnisse einer
politischen Gewalt so gut als jede Behauptung über den Begriff
einer Tugend oder einer Pflicht durch diesen Zusammenhang be-
dingt war. -- Aber die zusammengesetzten Thatsachen, welche sich
der Geschichtskunde und der politischen Beobachtung darbieten, sind
von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzusammen-
hänge zerlegt worden, vielmehr wurden sie durch teleologische
Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts
als ein willkürliches Spiel entstehen können, wenn nicht für diese
Chiffern der Geschichte und der Gesellschaft der Schlüssel in der

1) Von dieser zweiten geschichtlichen Formation des Natur-
rechts
, der mittelalterlichen, haben wir eine erste gründliche Dar-
stellung und Belegstellen in Gierkes Genossenschaftsrecht erhalten, III 627 ff.,
und in dessen Althusius S. 77 ff. S. 92 ff. S. 123 ff.

Naturrechtliche Konſtruktion des Staats von den Einzelwillen aus.
eine künftige Zeit, zunächſt aber hatte ſie während des Mittelalters
die Anpaſſung deſſelben an die anderen geſellſchaftlichen Ideen
der Zeit zur Folge. Erſt in einem Marſilius von Padua löſt
dieſer radikale Standpunkt ſich von den anderen geſellſchaftlichen
Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung
der modernen politiſchen Ideen. Die volle Machtentfaltung des
Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem
Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der Punkt in
der Entwicklung der neueren Geſellſchaft erreicht, an welchem
mit der Souveränität der Individuen Ernſt gemacht werden
konnte, entſprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechiſchen
Geſellſchaft, an dem das Naturrecht der Sophiſten ſich Geltung
verſchafft hatte 1).

So fand die theokratiſche Geſellſchaftslehre in der naturrecht-
lichen ihre Grenze, und dieſe letztere ihrerſeits entbehrte noch der
generellen Faſſung und der Hilfsmittel der Analyſis, welche ihr
eine zureichende Erklärung der Geſellſchaft ermöglicht hätten.

Wir überblicken und prüfen ſchließlich die Verbindung der
entwickelten Sätze in dieſer theokratiſchen Metaphyſik der Geſell-
ſchaft. — Dieſe Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß
ſie von dem umfaſſenden Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens
der Menſchheit ausging und jeder Satz über die Befugniſſe einer
politiſchen Gewalt ſo gut als jede Behauptung über den Begriff
einer Tugend oder einer Pflicht durch dieſen Zuſammenhang be-
dingt war. — Aber die zuſammengeſetzten Thatſachen, welche ſich
der Geſchichtskunde und der politiſchen Beobachtung darbieten, ſind
von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzuſammen-
hänge zerlegt worden, vielmehr wurden ſie durch teleologiſche
Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts
als ein willkürliches Spiel entſtehen können, wenn nicht für dieſe
Chiffern der Geſchichte und der Geſellſchaft der Schlüſſel in der

1) Von dieſer zweiten geſchichtlichen Formation des Natur-
rechts
, der mittelalterlichen, haben wir eine erſte gründliche Dar-
ſtellung und Belegſtellen in Gierkes Genoſſenſchaftsrecht erhalten, III 627 ff.,
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[443/0466] Naturrechtliche Konſtruktion des Staats von den Einzelwillen aus. eine künftige Zeit, zunächſt aber hatte ſie während des Mittelalters die Anpaſſung deſſelben an die anderen geſellſchaftlichen Ideen der Zeit zur Folge. Erſt in einem Marſilius von Padua löſt dieſer radikale Standpunkt ſich von den anderen geſellſchaftlichen Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung der modernen politiſchen Ideen. Die volle Machtentfaltung des Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der Punkt in der Entwicklung der neueren Geſellſchaft erreicht, an welchem mit der Souveränität der Individuen Ernſt gemacht werden konnte, entſprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechiſchen Geſellſchaft, an dem das Naturrecht der Sophiſten ſich Geltung verſchafft hatte 1). So fand die theokratiſche Geſellſchaftslehre in der naturrecht- lichen ihre Grenze, und dieſe letztere ihrerſeits entbehrte noch der generellen Faſſung und der Hilfsmittel der Analyſis, welche ihr eine zureichende Erklärung der Geſellſchaft ermöglicht hätten. Wir überblicken und prüfen ſchließlich die Verbindung der entwickelten Sätze in dieſer theokratiſchen Metaphyſik der Geſell- ſchaft. — Dieſe Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß ſie von dem umfaſſenden Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens der Menſchheit ausging und jeder Satz über die Befugniſſe einer politiſchen Gewalt ſo gut als jede Behauptung über den Begriff einer Tugend oder einer Pflicht durch dieſen Zuſammenhang be- dingt war. — Aber die zuſammengeſetzten Thatſachen, welche ſich der Geſchichtskunde und der politiſchen Beobachtung darbieten, ſind von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzuſammen- hänge zerlegt worden, vielmehr wurden ſie durch teleologiſche Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts als ein willkürliches Spiel entſtehen können, wenn nicht für dieſe Chiffern der Geſchichte und der Geſellſchaft der Schlüſſel in der 1) Von dieſer zweiten geſchichtlichen Formation des Natur- rechts, der mittelalterlichen, haben wir eine erſte gründliche Dar- ſtellung und Belegſtellen in Gierkes Genoſſenſchaftsrecht erhalten, III 627 ff., und in deſſen Althuſius S. 77 ff. S. 92 ff. S. 123 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/466>, abgerufen am 28.11.2024.