werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene immer genauer eingeschränkt. Die Naturwissenschaft des sechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantasien von psychi- schen Verhältnissen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes begannen den erfolgreichen Kampf gegen diese überlebenden Vor- stellungen aus der metaphysischen Zeit. Und allmälig wurden selbst Substanz, Ursache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Lösung der methodischen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erscheinungen die Bedingungen zu suchen, unter welchen ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen vorausgesagt werden kann.
Diese moderne Naturwissenschaft hat allmälig die Meta- physik der substantialen Formen zersetzt.
Der denknothwendige Zusammenhang, den die moderne Na- turwissenschaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit sucht, gemäß dem in der Metaphysik entwickelten und von der- selben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu seinem Material die ebenfalls in der Metaphysik aus dem Erlebniß der vollen Menschennatur abstrahirten und wissenschaftlich entwickelten Begriffe der Substanz und der Kausalität (wirkenden Ursache). Als die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der Entwicklung der Metaphysik auftraten, fanden sie diese beiden Grundvorstellungen vor, als welche das menschliche Denken vom Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entsprechend sehen wir die Naturforschung bemüht, das anschauliche Bild der Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver- kettung von Ursachen und Wirkungen aufzulösen, die Regelmäßig- keiten in ihnen zu erfassen, durch welche sie für den Gedanken beherrschbar werden, und als Träger dieses Vorgangs Substanzen zu konstruiren, welche nicht wie sinnliche Objekte dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Soweit unterscheidet sich die Gedankenarbeit der modernen Naturwissenschaft gar nicht von der Arbeit der Griechen, die ersten Gründe des gegebenen Weltalls aufzusuchen. Worin besteht nun das die Erforschung der Natur bei den neueren Völkern am meisten Unterscheidende, worin der
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi- ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor- ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen vorausgeſagt werden kann.
Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta- phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt.
Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na- turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der- ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver- kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig- keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung
Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des
ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi-
ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes
begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor-
ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden
ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung
der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung
gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen
ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen
vorausgeſagt werden kann.
Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta-
phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt.
Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na-
turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit
ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der-
ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem
Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der
vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten
Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als
die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der
Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden
Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom
Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend
ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der
Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver-
kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig-
keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken
beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen
zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen
und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die
Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der
Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls
aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur
bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/481>, abgerufen am 17.06.2024.
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