Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Auflösung der Metaphysik der Gesellschaft durch wirkliche Analysis.
nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In-
dividuums auch die Triebfedern des praktischen Verhaltens und
überwand so den alten Gegensatz zwischen theoretischer und prak-
tischer Philosophie. Der Ausdruck dieser wissenschaftlichen Um-
wälzung in der systematischen Gliederung ist, daß an die Stelle
des Gegensatzes der theoretischen und praktischen Philosophie der
einer Grundlegung für die Wissenschaften der Natur und
einer solchen für die Wissenschaften des Geistes tritt. In der
letzteren ist das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über
Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth-
aussagen und Imperative, wie sie das Leben des Einzelnen und
der Gesellschaft zu regeln bestimmt sind.

Die Methode, nach welcher das natürliche System Re-
ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvoll-
kommen
. Sie war vorherrschend von dem mathematischen
Verfahren bestimmt, welches für die mechanische Naturerklärung
so außerordentliche Ergebnisse gehabt hatte. Condorcet war der
Ueberzeugung, daß die Menschenrechte durch ein eben so sicheres
Verfahren entdeckt worden seien, als das der Mechanik ist.
Sieyes glaubte die Politik als Wissenschaft vollendet zu haben.
Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abstraktes Schema
der Menschennatur, welches in wenigen und allgemeinen psy-
chischen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die Thatsachen
des geschichtlichen Lebens der Menschheit aufstellte. So war
noch eine falsche metaphysische Methode mit den Ansätzen einer
fruchtbaren Zergliederung vermischt. Aber so arm dieses natür-
liche System uns heute erscheinen mag, das metaphysische
Stadium
der Erkenntniß der Gesellschaft wurde de-
finitiv durch diese dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über
die Religion, der Theoretiker des moralischen Sinns über Sitt-
lichkeit, der physiokratischen Schule über das Wirthschaftsleben etc.
überwunden. Denn diese Sätze entwickeln die Grundeigen-
schaften der innerhalb dieser Systeme der Gesellschaft zusammen-
gehörigen Theilinhalte, setzen diese Grundeigenschaften mit der
menschlichen Natur in Beziehung, und so eröffnen dieselben in

31 *

Auflöſung der Metaphyſik der Geſellſchaft durch wirkliche Analyſis.
nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In-
dividuums auch die Triebfedern des praktiſchen Verhaltens und
überwand ſo den alten Gegenſatz zwiſchen theoretiſcher und prak-
tiſcher Philoſophie. Der Ausdruck dieſer wiſſenſchaftlichen Um-
wälzung in der ſyſtematiſchen Gliederung iſt, daß an die Stelle
des Gegenſatzes der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie der
einer Grundlegung für die Wiſſenſchaften der Natur und
einer ſolchen für die Wiſſenſchaften des Geiſtes tritt. In der
letzteren iſt das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über
Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth-
ausſagen und Imperative, wie ſie das Leben des Einzelnen und
der Geſellſchaft zu regeln beſtimmt ſind.

Die Methode, nach welcher das natürliche Syſtem Re-
ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvoll-
kommen
. Sie war vorherrſchend von dem mathematiſchen
Verfahren beſtimmt, welches für die mechaniſche Naturerklärung
ſo außerordentliche Ergebniſſe gehabt hatte. Condorcet war der
Ueberzeugung, daß die Menſchenrechte durch ein eben ſo ſicheres
Verfahren entdeckt worden ſeien, als das der Mechanik iſt.
Sieyès glaubte die Politik als Wiſſenſchaft vollendet zu haben.
Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abſtraktes Schema
der Menſchennatur, welches in wenigen und allgemeinen pſy-
chiſchen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die Thatſachen
des geſchichtlichen Lebens der Menſchheit aufſtellte. So war
noch eine falſche metaphyſiſche Methode mit den Anſätzen einer
fruchtbaren Zergliederung vermiſcht. Aber ſo arm dieſes natür-
liche Syſtem uns heute erſcheinen mag, das metaphyſiſche
Stadium
der Erkenntniß der Geſellſchaft wurde de-
finitiv durch dieſe dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über
die Religion, der Theoretiker des moraliſchen Sinns über Sitt-
lichkeit, der phyſiokratiſchen Schule über das Wirthſchaftsleben etc.
überwunden. Denn dieſe Sätze entwickeln die Grundeigen-
ſchaften der innerhalb dieſer Syſteme der Geſellſchaft zuſammen-
gehörigen Theilinhalte, ſetzen dieſe Grundeigenſchaften mit der
menſchlichen Natur in Beziehung, und ſo eröffnen dieſelben in

31 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0506" n="483"/><fw place="top" type="header">Auflö&#x017F;ung der Metaphy&#x017F;ik der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft durch wirkliche Analy&#x017F;is.</fw><lb/>
nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In-<lb/>
dividuums auch die Triebfedern des prakti&#x017F;chen Verhaltens und<lb/>
überwand &#x017F;o den alten Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen theoreti&#x017F;cher und prak-<lb/>
ti&#x017F;cher Philo&#x017F;ophie. Der Ausdruck die&#x017F;er wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Um-<lb/>
wälzung in der &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Gliederung i&#x017F;t, daß an die Stelle<lb/>
des Gegen&#x017F;atzes der theoreti&#x017F;chen und prakti&#x017F;chen Philo&#x017F;ophie der<lb/>
einer <hi rendition="#g">Grundlegung</hi> für die <hi rendition="#g">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften</hi> der <hi rendition="#g">Natur</hi> und<lb/>
einer &#x017F;olchen für die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften des <hi rendition="#g">Gei&#x017F;tes</hi> tritt. In der<lb/>
letzteren i&#x017F;t das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über<lb/>
Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth-<lb/>
aus&#x017F;agen und Imperative, wie &#x017F;ie das Leben des Einzelnen und<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu regeln be&#x017F;timmt &#x017F;ind.</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#g">Methode,</hi> nach welcher das natürliche Sy&#x017F;tem Re-<lb/>
ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war <hi rendition="#g">unvoll-<lb/>
kommen</hi>. Sie war vorherr&#x017F;chend von dem mathemati&#x017F;chen<lb/>
Verfahren be&#x017F;timmt, welches für die mechani&#x017F;che Naturerklärung<lb/>
&#x017F;o außerordentliche Ergebni&#x017F;&#x017F;e gehabt hatte. Condorcet war der<lb/>
Ueberzeugung, daß die Men&#x017F;chenrechte durch ein eben &#x017F;o &#x017F;icheres<lb/>
Verfahren entdeckt worden &#x017F;eien, als das der Mechanik i&#x017F;t.<lb/>
Siey<hi rendition="#aq">è</hi>s glaubte die Politik als Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft vollendet zu haben.<lb/>
Die Grundlage des Verfahrens bildete ein <hi rendition="#g">ab&#x017F;traktes Schema</hi><lb/>
der <hi rendition="#g">Men&#x017F;chennatur,</hi> welches in wenigen und allgemeinen p&#x017F;y-<lb/>
chi&#x017F;chen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die That&#x017F;achen<lb/>
des ge&#x017F;chichtlichen Lebens der Men&#x017F;chheit auf&#x017F;tellte. So war<lb/>
noch eine fal&#x017F;che metaphy&#x017F;i&#x017F;che Methode mit den An&#x017F;ätzen einer<lb/>
fruchtbaren Zergliederung vermi&#x017F;cht. Aber &#x017F;o arm die&#x017F;es natür-<lb/>
liche Sy&#x017F;tem uns heute er&#x017F;cheinen mag, das <hi rendition="#g">metaphy&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Stadium</hi> der <hi rendition="#g">Erkenntniß</hi> der <hi rendition="#g">Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft</hi> wurde de-<lb/>
finitiv durch die&#x017F;e dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über<lb/>
die Religion, der Theoretiker des morali&#x017F;chen Sinns über Sitt-<lb/>
lichkeit, der phy&#x017F;iokrati&#x017F;chen Schule über das Wirth&#x017F;chaftsleben etc.<lb/><hi rendition="#g">überwunden</hi>. Denn die&#x017F;e Sätze entwickeln die Grundeigen-<lb/>
&#x017F;chaften der innerhalb die&#x017F;er Sy&#x017F;teme der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu&#x017F;ammen-<lb/>
gehörigen Theilinhalte, &#x017F;etzen die&#x017F;e Grundeigen&#x017F;chaften mit der<lb/>
men&#x017F;chlichen Natur in Beziehung, und &#x017F;o eröffnen die&#x017F;elben in<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">31 *</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[483/0506] Auflöſung der Metaphyſik der Geſellſchaft durch wirkliche Analyſis. nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In- dividuums auch die Triebfedern des praktiſchen Verhaltens und überwand ſo den alten Gegenſatz zwiſchen theoretiſcher und prak- tiſcher Philoſophie. Der Ausdruck dieſer wiſſenſchaftlichen Um- wälzung in der ſyſtematiſchen Gliederung iſt, daß an die Stelle des Gegenſatzes der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie der einer Grundlegung für die Wiſſenſchaften der Natur und einer ſolchen für die Wiſſenſchaften des Geiſtes tritt. In der letzteren iſt das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth- ausſagen und Imperative, wie ſie das Leben des Einzelnen und der Geſellſchaft zu regeln beſtimmt ſind. Die Methode, nach welcher das natürliche Syſtem Re- ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvoll- kommen. Sie war vorherrſchend von dem mathematiſchen Verfahren beſtimmt, welches für die mechaniſche Naturerklärung ſo außerordentliche Ergebniſſe gehabt hatte. Condorcet war der Ueberzeugung, daß die Menſchenrechte durch ein eben ſo ſicheres Verfahren entdeckt worden ſeien, als das der Mechanik iſt. Sieyès glaubte die Politik als Wiſſenſchaft vollendet zu haben. Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abſtraktes Schema der Menſchennatur, welches in wenigen und allgemeinen pſy- chiſchen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die Thatſachen des geſchichtlichen Lebens der Menſchheit aufſtellte. So war noch eine falſche metaphyſiſche Methode mit den Anſätzen einer fruchtbaren Zergliederung vermiſcht. Aber ſo arm dieſes natür- liche Syſtem uns heute erſcheinen mag, das metaphyſiſche Stadium der Erkenntniß der Geſellſchaft wurde de- finitiv durch dieſe dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über die Religion, der Theoretiker des moraliſchen Sinns über Sitt- lichkeit, der phyſiokratiſchen Schule über das Wirthſchaftsleben etc. überwunden. Denn dieſe Sätze entwickeln die Grundeigen- ſchaften der innerhalb dieſer Syſteme der Geſellſchaft zuſammen- gehörigen Theilinhalte, ſetzen dieſe Grundeigenſchaften mit der menſchlichen Natur in Beziehung, und ſo eröffnen dieſelben in 31 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/506
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/506>, abgerufen am 21.11.2024.