Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Anwendung der Einzelwissenschaften der Gesellschaft auf die Geschichte. Individuum ketten1). -- Andrerseits bildete sich das geschichtlicheBewußtsein fort. Der Gedanke vom Fortschritt des Men- schengeschlechtes beherrschte das Jahrhundert. Auch er war in dem geschichtlichen Bewußtsein des Mittelalters angelegt, welches einen inneren und centralen Fortgang in dem status hominis erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in den Vorstellungen und Gefühlen, damit er sich frei entfaltete. Schon im siebzehnten Jahrhundert wurde die Vorstellung von einem historischen Zustand der Vollkommenheit am Anfang der Menschheitsgeschichte verworfen. Damals wurde, zusammenhängend mit dem Fortschritt zu einer selbständigen Literatur und Wissen- schaft, im Gegensatz gegen die Zeit der Renaissance, der Gedanke lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in Bezug auf die Wissenschaften und die Literatur überlegen seien. Nun geschah das Wichtigste: dem mittelalterlichen Kirchenglauben und in vermindertem Grade dem altprotestantischen waren die erhabensten Gefühle des Menschen, der Kreis seiner Vorstellungen von den höchsten Dingen, seine Lebensordnung etwas in sich Fertiges, Abgeschlossenes gewesen; indem dieser Glaube zurücktrat, war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick auf die Zukunft des Menschengeschlechtes bis dahin gehindert hätte; das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent- wicklung des Menschengeschlechtes trat hervor. Wol besaßen die Alten schon ein klares Bewußtsein des geschichtlichen Fortschritts der Menschheit in Bezug auf Wissenschaften und Künste1). Bacon ist von demselben erfüllt und hebt hervor, daß das Menschenge- 1) Als Condorcet 1782 in die französische Akademie eintrat, erklärte er: "Le veritable interet d'une nation n'est jamais separe de l'interet general du genre humain, la nature n'a pu vouloir fonder le bonheur d'un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l'une a l'autre deux vertus qu'elle inspire egalement; l'amour de la patrie et celui de l'humanite." (Condorcet, Discours de reception a l'academie francaise 1782 Oeuvres VII, 113.) 1) Para men gar enion pareilephamen tinas doxas, oi de tou
genesthai toutous aitioi gegonasin. So Pseudo-Aristoteles Metaph. II (a), 1 p. 993b 18, vgl. das ganze Kapitel. Anwendung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft auf die Geſchichte. Individuum ketten1). — Andrerſeits bildete ſich das geſchichtlicheBewußtſein fort. Der Gedanke vom Fortſchritt des Men- ſchengeſchlechtes beherrſchte das Jahrhundert. Auch er war in dem geſchichtlichen Bewußtſein des Mittelalters angelegt, welches einen inneren und centralen Fortgang in dem status hominis erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in den Vorſtellungen und Gefühlen, damit er ſich frei entfaltete. Schon im ſiebzehnten Jahrhundert wurde die Vorſtellung von einem hiſtoriſchen Zuſtand der Vollkommenheit am Anfang der Menſchheitsgeſchichte verworfen. Damals wurde, zuſammenhängend mit dem Fortſchritt zu einer ſelbſtändigen Literatur und Wiſſen- ſchaft, im Gegenſatz gegen die Zeit der Renaiſſance, der Gedanke lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in Bezug auf die Wiſſenſchaften und die Literatur überlegen ſeien. Nun geſchah das Wichtigſte: dem mittelalterlichen Kirchenglauben und in vermindertem Grade dem altproteſtantiſchen waren die erhabenſten Gefühle des Menſchen, der Kreis ſeiner Vorſtellungen von den höchſten Dingen, ſeine Lebensordnung etwas in ſich Fertiges, Abgeſchloſſenes geweſen; indem dieſer Glaube zurücktrat, war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick auf die Zukunft des Menſchengeſchlechtes bis dahin gehindert hätte; das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent- wicklung des Menſchengeſchlechtes trat hervor. Wol beſaßen die Alten ſchon ein klares Bewußtſein des geſchichtlichen Fortſchritts der Menſchheit in Bezug auf Wiſſenſchaften und Künſte1). Bacon iſt von demſelben erfüllt und hebt hervor, daß das Menſchenge- 1) Als Condorcet 1782 in die franzöſiſche Akademie eintrat, erklärte er: „Le véritable intérêt d’une nation n’est jamais séparé de l’intérêt général du genre humain, la nature n’a pu vouloir fonder le bonheur d’un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l’une à l’autre deux vertus qu’elle inspire également; l’amour de la patrie et celui de l’humanité.“ (Condorcet, Discours de réception à l’académie française 1782 Oeuvres VII, 113.) 1) Παϱὰ μὲν γὰϱ ἐνίων παϱειλήφαμέν τινας δόξας, οἱ δὲ τοῦ
γενέσϑαι τούτους αἴτιοι γεγόνασιν. So Pſeudo-Ariſtoteles Metaph. II (α), 1 p. 993b 18, vgl. das ganze Kapitel. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0508" n="485"/><fw place="top" type="header">Anwendung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft auf die Geſchichte.</fw><lb/> Individuum ketten<note place="foot" n="1)">Als Condorcet 1782 in die franzöſiſche Akademie eintrat, erklärte<lb/> er: <hi rendition="#aq">„Le véritable intérêt d’une nation n’est jamais séparé de l’intérêt<lb/> général du genre humain, la nature n’a pu vouloir fonder le bonheur<lb/> d’un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l’une à l’autre<lb/> deux vertus qu’elle inspire également; l’amour de la patrie et celui de<lb/> l’humanité.“</hi> (Condorcet, <hi rendition="#aq">Discours de réception à l’académie française<lb/> 1782 Oeuvres VII, 113</hi>.)</note>. — Andrerſeits bildete ſich das geſchichtliche<lb/> Bewußtſein fort. Der Gedanke vom <hi rendition="#g">Fortſchritt des Men-<lb/> ſchengeſchlechtes</hi> beherrſchte das Jahrhundert. Auch er war<lb/> in dem geſchichtlichen Bewußtſein des Mittelalters angelegt, welches<lb/> einen inneren und centralen Fortgang in dem <hi rendition="#aq">status hominis</hi><lb/> erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in<lb/> den Vorſtellungen und Gefühlen, damit er ſich frei entfaltete.<lb/> Schon im ſiebzehnten Jahrhundert wurde die Vorſtellung von<lb/> einem hiſtoriſchen Zuſtand der Vollkommenheit am Anfang der<lb/> Menſchheitsgeſchichte verworfen. Damals wurde, zuſammenhängend<lb/> mit dem Fortſchritt zu einer ſelbſtändigen Literatur und Wiſſen-<lb/> ſchaft, im Gegenſatz gegen die Zeit der Renaiſſance, der Gedanke<lb/> lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in<lb/> Bezug auf die Wiſſenſchaften und die Literatur überlegen ſeien.<lb/> Nun geſchah das Wichtigſte: dem mittelalterlichen Kirchenglauben<lb/> und in vermindertem Grade dem altproteſtantiſchen waren die<lb/> erhabenſten Gefühle des Menſchen, der Kreis ſeiner Vorſtellungen<lb/> von den höchſten Dingen, ſeine Lebensordnung etwas in ſich<lb/> Fertiges, Abgeſchloſſenes geweſen; indem dieſer Glaube zurücktrat,<lb/> war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick<lb/> auf die Zukunft des Menſchengeſchlechtes bis dahin gehindert hätte;<lb/> das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent-<lb/> wicklung des Menſchengeſchlechtes trat hervor. Wol beſaßen die<lb/> Alten ſchon ein klares Bewußtſein des geſchichtlichen Fortſchritts<lb/> der Menſchheit in Bezug auf Wiſſenſchaften und Künſte<note place="foot" n="1)">Παϱὰ μὲν γὰϱ ἐνίων παϱειλήφαμέν τινας δόξας, οἱ δὲ τοῦ<lb/> γενέσϑαι τούτους αἴτιοι γεγόνασιν. So Pſeudo-Ariſtoteles <hi rendition="#aq">Metaph. II (α),<lb/> 1 p. 993<hi rendition="#sup">b</hi> 18</hi>, vgl. das ganze Kapitel.</note>. Bacon<lb/> iſt von demſelben erfüllt und hebt hervor, daß das Menſchenge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [485/0508]
Anwendung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft auf die Geſchichte.
Individuum ketten 1). — Andrerſeits bildete ſich das geſchichtliche
Bewußtſein fort. Der Gedanke vom Fortſchritt des Men-
ſchengeſchlechtes beherrſchte das Jahrhundert. Auch er war
in dem geſchichtlichen Bewußtſein des Mittelalters angelegt, welches
einen inneren und centralen Fortgang in dem status hominis
erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in
den Vorſtellungen und Gefühlen, damit er ſich frei entfaltete.
Schon im ſiebzehnten Jahrhundert wurde die Vorſtellung von
einem hiſtoriſchen Zuſtand der Vollkommenheit am Anfang der
Menſchheitsgeſchichte verworfen. Damals wurde, zuſammenhängend
mit dem Fortſchritt zu einer ſelbſtändigen Literatur und Wiſſen-
ſchaft, im Gegenſatz gegen die Zeit der Renaiſſance, der Gedanke
lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in
Bezug auf die Wiſſenſchaften und die Literatur überlegen ſeien.
Nun geſchah das Wichtigſte: dem mittelalterlichen Kirchenglauben
und in vermindertem Grade dem altproteſtantiſchen waren die
erhabenſten Gefühle des Menſchen, der Kreis ſeiner Vorſtellungen
von den höchſten Dingen, ſeine Lebensordnung etwas in ſich
Fertiges, Abgeſchloſſenes geweſen; indem dieſer Glaube zurücktrat,
war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick
auf die Zukunft des Menſchengeſchlechtes bis dahin gehindert hätte;
das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent-
wicklung des Menſchengeſchlechtes trat hervor. Wol beſaßen die
Alten ſchon ein klares Bewußtſein des geſchichtlichen Fortſchritts
der Menſchheit in Bezug auf Wiſſenſchaften und Künſte 1). Bacon
iſt von demſelben erfüllt und hebt hervor, daß das Menſchenge-
1) Als Condorcet 1782 in die franzöſiſche Akademie eintrat, erklärte
er: „Le véritable intérêt d’une nation n’est jamais séparé de l’intérêt
général du genre humain, la nature n’a pu vouloir fonder le bonheur
d’un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l’une à l’autre
deux vertus qu’elle inspire également; l’amour de la patrie et celui de
l’humanité.“ (Condorcet, Discours de réception à l’académie française
1782 Oeuvres VII, 113.)
1) Παϱὰ μὲν γὰϱ ἐνίων παϱειλήφαμέν τινας δόξας, οἱ δὲ τοῦ
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1 p. 993b 18, vgl. das ganze Kapitel.
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