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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
als die zu den Wissenschaften der Außenwelt: auch dies macht
eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphy-
sischen Zusammenhang unmöglich. Das, dessen ich inne werde,
ist als Zustand meiner selbst nicht relativ, wie ein äußerer
Gegenstand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenstandes als Ueber-
einstimmung des Bildes mit einer Realität besteht nicht, denn
diese Realität ist in keinem Bewußtsein gegeben und entzieht sich
also der Vergleichung. Wie das Objekt aussieht, wenn Niemand
es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wollen.
Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Thatsache des Be-
wußtseins darum für mich da, weil ich desselben inne werde:
Thatsache des Bewußtseins ist nichts Anderes als das, dessen ich
inne werde. Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und
Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber. Gleich-
viel welche Ansicht jemand hegen mag über die Bestandtheile dieser
psychischen Thatsachen -- und Kant's ganze Theorie des inneren
Sinnes kann nur als solche Ansicht logisch gerechtfertigt erscheinen --:
daß solche Bewußtseinsthatsachen bestehen, wird dadurch nicht be-
rührt1). Daher ist uns das, dessen wir inne werden, als Zu-
stand unserer selbst nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegen-
stand. Erst wenn wir dies unmittelbare Wissen uns zu deutlicher
Erkenntniß bringen oder anderen mittheilen wollen, entsteht die
Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahr-
nehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urtheile, welche wir aus-
sagen, sind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die
innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Ver-
knüpfen, Urtheilen und Schließen die Thatsachen unter den neuen
Bedingungen des Bewußtseins als dieselben erhält. Daher hat
der Satz vom Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem

1) Kant K. d. r. V. I, 1 § 7 "die Zeit ist allerdings etwas Wirk-
liches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anschauung. Sie hat also
subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirk-
lich die Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr". In
diesen Sätzen wird das, was ich oben zunächst behaupte, anerkannt, nur in
Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahr-
nehmung.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
als die zu den Wiſſenſchaften der Außenwelt: auch dies macht
eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphy-
ſiſchen Zuſammenhang unmöglich. Das, deſſen ich inne werde,
iſt als Zuſtand meiner ſelbſt nicht relativ, wie ein äußerer
Gegenſtand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenſtandes als Ueber-
einſtimmung des Bildes mit einer Realität beſteht nicht, denn
dieſe Realität iſt in keinem Bewußtſein gegeben und entzieht ſich
alſo der Vergleichung. Wie das Objekt ausſieht, wenn Niemand
es in ſein Bewußtſein aufnimmt, kann man nicht wiſſen wollen.
Dagegen iſt das, was ich in mir erlebe, als Thatſache des Be-
wußtſeins darum für mich da, weil ich deſſelben inne werde:
Thatſache des Bewußtſeins iſt nichts Anderes als das, deſſen ich
inne werde. Unſer Hoffen und Trachten, unſer Wünſchen und
Wollen, dieſe innere Welt iſt als ſolche die Sache ſelber. Gleich-
viel welche Anſicht jemand hegen mag über die Beſtandtheile dieſer
pſychiſchen Thatſachen — und Kant’s ganze Theorie des inneren
Sinnes kann nur als ſolche Anſicht logiſch gerechtfertigt erſcheinen —:
daß ſolche Bewußtſeinsthatſachen beſtehen, wird dadurch nicht be-
rührt1). Daher iſt uns das, deſſen wir inne werden, als Zu-
ſtand unſerer ſelbſt nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegen-
ſtand. Erſt wenn wir dies unmittelbare Wiſſen uns zu deutlicher
Erkenntniß bringen oder anderen mittheilen wollen, entſteht die
Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahr-
nehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urtheile, welche wir aus-
ſagen, ſind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die
innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Ver-
knüpfen, Urtheilen und Schließen die Thatſachen unter den neuen
Bedingungen des Bewußtſeins als dieſelben erhält. Daher hat
der Satz vom Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem

1) Kant K. d. r. V. I, 1 § 7 „die Zeit iſt allerdings etwas Wirk-
liches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anſchauung. Sie hat alſo
ſubjektive Realität in Anſehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirk-
lich die Vorſtellung von der Zeit und meinen Beſtimmungen in ihr“. In
dieſen Sätzen wird das, was ich oben zunächſt behaupte, anerkannt, nur in
Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahr-
nehmung.
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[502/0525] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. als die zu den Wiſſenſchaften der Außenwelt: auch dies macht eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphy- ſiſchen Zuſammenhang unmöglich. Das, deſſen ich inne werde, iſt als Zuſtand meiner ſelbſt nicht relativ, wie ein äußerer Gegenſtand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenſtandes als Ueber- einſtimmung des Bildes mit einer Realität beſteht nicht, denn dieſe Realität iſt in keinem Bewußtſein gegeben und entzieht ſich alſo der Vergleichung. Wie das Objekt ausſieht, wenn Niemand es in ſein Bewußtſein aufnimmt, kann man nicht wiſſen wollen. Dagegen iſt das, was ich in mir erlebe, als Thatſache des Be- wußtſeins darum für mich da, weil ich deſſelben inne werde: Thatſache des Bewußtſeins iſt nichts Anderes als das, deſſen ich inne werde. Unſer Hoffen und Trachten, unſer Wünſchen und Wollen, dieſe innere Welt iſt als ſolche die Sache ſelber. Gleich- viel welche Anſicht jemand hegen mag über die Beſtandtheile dieſer pſychiſchen Thatſachen — und Kant’s ganze Theorie des inneren Sinnes kann nur als ſolche Anſicht logiſch gerechtfertigt erſcheinen —: daß ſolche Bewußtſeinsthatſachen beſtehen, wird dadurch nicht be- rührt 1). Daher iſt uns das, deſſen wir inne werden, als Zu- ſtand unſerer ſelbſt nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegen- ſtand. Erſt wenn wir dies unmittelbare Wiſſen uns zu deutlicher Erkenntniß bringen oder anderen mittheilen wollen, entſteht die Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahr- nehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urtheile, welche wir aus- ſagen, ſind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Ver- knüpfen, Urtheilen und Schließen die Thatſachen unter den neuen Bedingungen des Bewußtſeins als dieſelben erhält. Daher hat der Satz vom Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem 1) Kant K. d. r. V. I, 1 § 7 „die Zeit iſt allerdings etwas Wirk- liches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anſchauung. Sie hat alſo ſubjektive Realität in Anſehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirk- lich die Vorſtellung von der Zeit und meinen Beſtimmungen in ihr“. In dieſen Sätzen wird das, was ich oben zunächſt behaupte, anerkannt, nur in Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahr- nehmung.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/525>, abgerufen am 21.11.2024.