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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Studium der natürlichen Gliederung der Menschheit.
concentrischen Kreisen, das Menschengeschlecht natürlich gegliedert
ist, d. h. wie in jedem engeren Kreise zusammenhängend mit näherer
Verwandtschaft neue gemeinsame Merkmale auftreten. Von der
Frage nach der Einheit der Abstammung und Art, nach dem
ältesten Wohnsitze, dem Alter und den gemeinsamen Merkmalen
des Menschengeschlechts wendet diese Wissenschaft sich zur Abgren-
zung der einzelnen Racen und der Bestimmung ihrer Merkmale,
zu den Gruppen, welche jede dieser Racen in sich faßt; auf der
Grundlage der Geographie entwickelt sie die Vertheilung des geistigen
Lebens und seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde: man
sieht den Strom der Bevölkerung sich verbreiten, der Richtung der
leichtesten Befriedigung folgend, wie das Wassernetz sich den Be-
dingungen des Bodens anschmiegt.

Mit dieser genealogischen Gliederung verweben sich geschicht-
liche That und geschichtliches Schicksal, und so bilden sich die
Völker, lebendige und relativ selbständige Centren der Kultur
in dem gesellschaftlichen Zusammenhang einer Zeit, Träger der
geschichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genea-
logischen Naturzusammenhang seine Grundlage, die sich auch
leiblich zu erkennen giebt; aber während verwandte Völker eine
Verwandtschaft des körperlichen Typus zeigen, der sich mit wunder-
barer Festigkeit erhält, gestaltet sich ihre geschichtliche geistige Phy-
siognomie zu immer feiner verzweigten Unterschieden auf allen ver-
schiedenen Gebieten des Volkslebens.

Diese individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die sich in
der Verwandtschaft aller seiner Lebensäußerungen, wie seines
Rechts, seiner Sprache, seines religiösen Inneren, untereinander
kundgiebt, wird mystisch durch Begriffe wie Volksseele, Nation,
Volksgeist, Organismus ausgedrückt. Diese Begriffe sind so un-
brauchbar für die Geschichte, als der von Lebenskraft für die Physio-
logie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytisch
aufgeklärt werden (innerhalb gewisser Grenzen), mit Hilfe von Un-
tersuchungen, welche in dem methodologischen Zusammenhang der
Geisteswissenschaften als Theorien zweiter Ordnung bezeichnet werden
können. Diese haben die Wahrheiten der Anthropologie zu ihrer

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Studium der natürlichen Gliederung der Menſchheit.
concentriſchen Kreiſen, das Menſchengeſchlecht natürlich gegliedert
iſt, d. h. wie in jedem engeren Kreiſe zuſammenhängend mit näherer
Verwandtſchaft neue gemeinſame Merkmale auftreten. Von der
Frage nach der Einheit der Abſtammung und Art, nach dem
älteſten Wohnſitze, dem Alter und den gemeinſamen Merkmalen
des Menſchengeſchlechts wendet dieſe Wiſſenſchaft ſich zur Abgren-
zung der einzelnen Racen und der Beſtimmung ihrer Merkmale,
zu den Gruppen, welche jede dieſer Racen in ſich faßt; auf der
Grundlage der Geographie entwickelt ſie die Vertheilung des geiſtigen
Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde: man
ſieht den Strom der Bevölkerung ſich verbreiten, der Richtung der
leichteſten Befriedigung folgend, wie das Waſſernetz ſich den Be-
dingungen des Bodens anſchmiegt.

Mit dieſer genealogiſchen Gliederung verweben ſich geſchicht-
liche That und geſchichtliches Schickſal, und ſo bilden ſich die
Völker, lebendige und relativ ſelbſtändige Centren der Kultur
in dem geſellſchaftlichen Zuſammenhang einer Zeit, Träger der
geſchichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genea-
logiſchen Naturzuſammenhang ſeine Grundlage, die ſich auch
leiblich zu erkennen giebt; aber während verwandte Völker eine
Verwandtſchaft des körperlichen Typus zeigen, der ſich mit wunder-
barer Feſtigkeit erhält, geſtaltet ſich ihre geſchichtliche geiſtige Phy-
ſiognomie zu immer feiner verzweigten Unterſchieden auf allen ver-
ſchiedenen Gebieten des Volkslebens.

Dieſe individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die ſich in
der Verwandtſchaft aller ſeiner Lebensäußerungen, wie ſeines
Rechts, ſeiner Sprache, ſeines religiöſen Inneren, untereinander
kundgiebt, wird myſtiſch durch Begriffe wie Volksſeele, Nation,
Volksgeiſt, Organismus ausgedrückt. Dieſe Begriffe ſind ſo un-
brauchbar für die Geſchichte, als der von Lebenskraft für die Phyſio-
logie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytiſch
aufgeklärt werden (innerhalb gewiſſer Grenzen), mit Hilfe von Un-
terſuchungen, welche in dem methodologiſchen Zuſammenhang der
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[51/0074] Studium der natürlichen Gliederung der Menſchheit. concentriſchen Kreiſen, das Menſchengeſchlecht natürlich gegliedert iſt, d. h. wie in jedem engeren Kreiſe zuſammenhängend mit näherer Verwandtſchaft neue gemeinſame Merkmale auftreten. Von der Frage nach der Einheit der Abſtammung und Art, nach dem älteſten Wohnſitze, dem Alter und den gemeinſamen Merkmalen des Menſchengeſchlechts wendet dieſe Wiſſenſchaft ſich zur Abgren- zung der einzelnen Racen und der Beſtimmung ihrer Merkmale, zu den Gruppen, welche jede dieſer Racen in ſich faßt; auf der Grundlage der Geographie entwickelt ſie die Vertheilung des geiſtigen Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde: man ſieht den Strom der Bevölkerung ſich verbreiten, der Richtung der leichteſten Befriedigung folgend, wie das Waſſernetz ſich den Be- dingungen des Bodens anſchmiegt. Mit dieſer genealogiſchen Gliederung verweben ſich geſchicht- liche That und geſchichtliches Schickſal, und ſo bilden ſich die Völker, lebendige und relativ ſelbſtändige Centren der Kultur in dem geſellſchaftlichen Zuſammenhang einer Zeit, Träger der geſchichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genea- logiſchen Naturzuſammenhang ſeine Grundlage, die ſich auch leiblich zu erkennen giebt; aber während verwandte Völker eine Verwandtſchaft des körperlichen Typus zeigen, der ſich mit wunder- barer Feſtigkeit erhält, geſtaltet ſich ihre geſchichtliche geiſtige Phy- ſiognomie zu immer feiner verzweigten Unterſchieden auf allen ver- ſchiedenen Gebieten des Volkslebens. Dieſe individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die ſich in der Verwandtſchaft aller ſeiner Lebensäußerungen, wie ſeines Rechts, ſeiner Sprache, ſeines religiöſen Inneren, untereinander kundgiebt, wird myſtiſch durch Begriffe wie Volksſeele, Nation, Volksgeiſt, Organismus ausgedrückt. Dieſe Begriffe ſind ſo un- brauchbar für die Geſchichte, als der von Lebenskraft für die Phyſio- logie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytiſch aufgeklärt werden (innerhalb gewiſſer Grenzen), mit Hilfe von Un- terſuchungen, welche in dem methodologiſchen Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften als Theorien zweiter Ordnung bezeichnet werden können. Dieſe haben die Wahrheiten der Anthropologie zu ihrer 4*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/74>, abgerufen am 24.11.2024.