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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zwei weitere Classen von Einzelwissenschaften.
substantialen Formen, die Gestirngeister und Essenzen zwischen dem
Auge des Forschers und den Gesetzen standen, welche unter den
Atomen und Molekülen walten, so verschleiern diese Wesenheiten
die Wirklichkeit des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, die Wechsel-
wirkung der psychophysischen Lebenseinheiten unter den Bedingungen
des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogischen Glie-
derung. Ich möchte diese Wirklichkeit sehen lehren -- eine Kunst,
die lange geübt sein will wie die der Anschauung von räumlichen
Gebilden -- und diese Nebel und Phantome verscheuchen.

In der unermeßlichen Mannichfaltigkeit von kleinen, schein-
bar verschwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Indivi-
duum durch das Medium materieller Vorgänge ausstrahlen, geht
so wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenstrahl in der
physischen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen
dieses Sonnenstrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in
der gesellschaftlichen Welt sich vereinigen, entstehen die That-
bestände, welche eine deutliche und starke Sprache zu uns reden.
Von diesen entspringen einige aus einer gleichartigen, aber vor-
übergehenden Spannung der Kräfte in einer bestimmten Richtung
oder auch durch die singulare Gewalt einer einzigen mächtigen
Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung solcher in
der Geschichte und Gesellschaft angesammelten Spannkräfte große
Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geschichte
plötzliche gewaltige Erschütterungen, wie Revolutionen und Kriege,
hervor, und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entstehen aus
ihnen nur, indem sie in einem schon vorhandenen constanten ge-
sellschaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: so wirkte
die Epoche des Sturms und Drangs von der mächtigen Person
Rousseau's aus auf die angesammelten Spannkräfte in unserm
Volksleben und gab unsrer Dichtung eine andere Gestalt. Eben
diese constanten Gebilde sind der andere in der gesellschaft-
lichen Wirklichkeit stark hervortretende Thatbestand, sie entspringen
aber aus dauernden Beziehungen der Individuen, und sie allein
haben bisher eine wirklich wissenschaftliche theoretische Bearbeitung
gefunden.


Zwei weitere Claſſen von Einzelwiſſenſchaften.
ſubſtantialen Formen, die Geſtirngeiſter und Eſſenzen zwiſchen dem
Auge des Forſchers und den Geſetzen ſtanden, welche unter den
Atomen und Molekülen walten, ſo verſchleiern dieſe Weſenheiten
die Wirklichkeit des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens, die Wechſel-
wirkung der pſychophyſiſchen Lebenseinheiten unter den Bedingungen
des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogiſchen Glie-
derung. Ich möchte dieſe Wirklichkeit ſehen lehren — eine Kunſt,
die lange geübt ſein will wie die der Anſchauung von räumlichen
Gebilden — und dieſe Nebel und Phantome verſcheuchen.

In der unermeßlichen Mannichfaltigkeit von kleinen, ſchein-
bar verſchwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Indivi-
duum durch das Medium materieller Vorgänge ausſtrahlen, geht
ſo wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenſtrahl in der
phyſiſchen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen
dieſes Sonnenſtrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in
der geſellſchaftlichen Welt ſich vereinigen, entſtehen die That-
beſtände, welche eine deutliche und ſtarke Sprache zu uns reden.
Von dieſen entſpringen einige aus einer gleichartigen, aber vor-
übergehenden Spannung der Kräfte in einer beſtimmten Richtung
oder auch durch die ſingulare Gewalt einer einzigen mächtigen
Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung ſolcher in
der Geſchichte und Geſellſchaft angeſammelten Spannkräfte große
Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geſchichte
plötzliche gewaltige Erſchütterungen, wie Revolutionen und Kriege,
hervor, und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entſtehen aus
ihnen nur, indem ſie in einem ſchon vorhandenen conſtanten ge-
ſellſchaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: ſo wirkte
die Epoche des Sturms und Drangs von der mächtigen Perſon
Rouſſeau’s aus auf die angeſammelten Spannkräfte in unſerm
Volksleben und gab unſrer Dichtung eine andere Geſtalt. Eben
dieſe conſtanten Gebilde ſind der andere in der geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit ſtark hervortretende Thatbeſtand, ſie entſpringen
aber aus dauernden Beziehungen der Individuen, und ſie allein
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[53/0076] Zwei weitere Claſſen von Einzelwiſſenſchaften. ſubſtantialen Formen, die Geſtirngeiſter und Eſſenzen zwiſchen dem Auge des Forſchers und den Geſetzen ſtanden, welche unter den Atomen und Molekülen walten, ſo verſchleiern dieſe Weſenheiten die Wirklichkeit des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens, die Wechſel- wirkung der pſychophyſiſchen Lebenseinheiten unter den Bedingungen des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogiſchen Glie- derung. Ich möchte dieſe Wirklichkeit ſehen lehren — eine Kunſt, die lange geübt ſein will wie die der Anſchauung von räumlichen Gebilden — und dieſe Nebel und Phantome verſcheuchen. In der unermeßlichen Mannichfaltigkeit von kleinen, ſchein- bar verſchwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Indivi- duum durch das Medium materieller Vorgänge ausſtrahlen, geht ſo wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenſtrahl in der phyſiſchen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen dieſes Sonnenſtrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in der geſellſchaftlichen Welt ſich vereinigen, entſtehen die That- beſtände, welche eine deutliche und ſtarke Sprache zu uns reden. Von dieſen entſpringen einige aus einer gleichartigen, aber vor- übergehenden Spannung der Kräfte in einer beſtimmten Richtung oder auch durch die ſingulare Gewalt einer einzigen mächtigen Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung ſolcher in der Geſchichte und Geſellſchaft angeſammelten Spannkräfte große Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geſchichte plötzliche gewaltige Erſchütterungen, wie Revolutionen und Kriege, hervor, und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entſtehen aus ihnen nur, indem ſie in einem ſchon vorhandenen conſtanten ge- ſellſchaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: ſo wirkte die Epoche des Sturms und Drangs von der mächtigen Perſon Rouſſeau’s aus auf die angeſammelten Spannkräfte in unſerm Volksleben und gab unſrer Dichtung eine andere Geſtalt. Eben dieſe conſtanten Gebilde ſind der andere in der geſellſchaft- lichen Wirklichkeit ſtark hervortretende Thatbeſtand, ſie entſpringen aber aus dauernden Beziehungen der Individuen, und ſie allein haben bisher eine wirklich wiſſenſchaftliche theoretiſche Bearbeitung gefunden.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/76>, abgerufen am 24.11.2024.