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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Wissenschaften von den Systemen der Kultur.
Gliederung des psychischen Lebens, ermöglicht dieser Lebensinhalt
eine Verschiedenheit der Systeme im Leben der Gesellschaft.

Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen
selber auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von dem-
selben wieder abtreten. Denn jedes ist auf einen bestimmten, in
Modifikationen wiederkehrenden Bestandtheil der Person gegründet.
Die Religion, die Kunst, das Recht sind unvergänglich, während
die Individua, in denen sie leben, wechseln. So strömt in jeder
Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichthum der Menschen-
natur, sofern sie in einem Bestandtheil derselben gegenwärtig oder
mit ihm in Beziehung sind, in das auf diesen gegründete System
ein. Ist auch z. B. die Kunst auf das Vermögen der Phantasie, als
einen einzelnen Bestandtheil der Menschennatur, gegründet: so ist
doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menschen-
natur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt
das System aber erst dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von
Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder
sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln die
Fähigkeit hat. Diese Verbindung von werthvoll nach dem Zweck
eines solchen Systems gestalteten Bestandtheilen der Außenwelt
mit der lebendigen, aber vorübergehenden Thätigkeit der Personen,
erzeugt eine von den Individuen selber unabhängige äußere Dauer
und den Charakter von massiver Objektivität dieser Systeme. Und
so gestaltet sich jedes derselben als eine auf einem Bestandtheil
der Natur der Personen beruhende, von ihm aus mannichfach ent-
wickelte Thätigkeitsweise, welche im Ganzen der Gesellschaft einem
Zweck derselben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt
hergestellten dauernden oder im Zusammenhang mit der Thätigkeit
sich erneuenden Mitteln ausgestattet ist, welche dem Zweck dieser
Thätigkeit dienen.

Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehr-
heit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden
Kultur immer feiner specialisiren. Ja derselbe Lebensakt eines
Individuums kann diese Vielseitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter
ein Werk abfaßt, kann dieser Vorgang ein Glied in der Verbin-

Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur.
Gliederung des pſychiſchen Lebens, ermöglicht dieſer Lebensinhalt
eine Verſchiedenheit der Syſteme im Leben der Geſellſchaft.

Dieſe Syſteme beharren, während die einzelnen Individuen
ſelber auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von dem-
ſelben wieder abtreten. Denn jedes iſt auf einen beſtimmten, in
Modifikationen wiederkehrenden Beſtandtheil der Perſon gegründet.
Die Religion, die Kunſt, das Recht ſind unvergänglich, während
die Individua, in denen ſie leben, wechſeln. So ſtrömt in jeder
Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichthum der Menſchen-
natur, ſofern ſie in einem Beſtandtheil derſelben gegenwärtig oder
mit ihm in Beziehung ſind, in das auf dieſen gegründete Syſtem
ein. Iſt auch z. B. die Kunſt auf das Vermögen der Phantaſie, als
einen einzelnen Beſtandtheil der Menſchennatur, gegründet: ſo iſt
doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menſchen-
natur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt
das Syſtem aber erſt dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von
Individuen, die raſch vergänglich ſind, auf eine mehr dauernde oder
ſich wiedererzeugende Weiſe aufzubewahren und zu vermitteln die
Fähigkeit hat. Dieſe Verbindung von werthvoll nach dem Zweck
eines ſolchen Syſtems geſtalteten Beſtandtheilen der Außenwelt
mit der lebendigen, aber vorübergehenden Thätigkeit der Perſonen,
erzeugt eine von den Individuen ſelber unabhängige äußere Dauer
und den Charakter von maſſiver Objektivität dieſer Syſteme. Und
ſo geſtaltet ſich jedes derſelben als eine auf einem Beſtandtheil
der Natur der Perſonen beruhende, von ihm aus mannichfach ent-
wickelte Thätigkeitsweiſe, welche im Ganzen der Geſellſchaft einem
Zweck derſelben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt
hergeſtellten dauernden oder im Zuſammenhang mit der Thätigkeit
ſich erneuenden Mitteln ausgeſtattet iſt, welche dem Zweck dieſer
Thätigkeit dienen.

Das einzelne Individuum iſt ein Kreuzungspunkt einer Mehr-
heit von Syſtemen, welche ſich im Verlauf der fortſchreitenden
Kultur immer feiner ſpecialiſiren. Ja derſelbe Lebensakt eines
Individuums kann dieſe Vielſeitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter
ein Werk abfaßt, kann dieſer Vorgang ein Glied in der Verbin-

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[63/0086] Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur. Gliederung des pſychiſchen Lebens, ermöglicht dieſer Lebensinhalt eine Verſchiedenheit der Syſteme im Leben der Geſellſchaft. Dieſe Syſteme beharren, während die einzelnen Individuen ſelber auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von dem- ſelben wieder abtreten. Denn jedes iſt auf einen beſtimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Beſtandtheil der Perſon gegründet. Die Religion, die Kunſt, das Recht ſind unvergänglich, während die Individua, in denen ſie leben, wechſeln. So ſtrömt in jeder Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichthum der Menſchen- natur, ſofern ſie in einem Beſtandtheil derſelben gegenwärtig oder mit ihm in Beziehung ſind, in das auf dieſen gegründete Syſtem ein. Iſt auch z. B. die Kunſt auf das Vermögen der Phantaſie, als einen einzelnen Beſtandtheil der Menſchennatur, gegründet: ſo iſt doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menſchen- natur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt das Syſtem aber erſt dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die raſch vergänglich ſind, auf eine mehr dauernde oder ſich wiedererzeugende Weiſe aufzubewahren und zu vermitteln die Fähigkeit hat. Dieſe Verbindung von werthvoll nach dem Zweck eines ſolchen Syſtems geſtalteten Beſtandtheilen der Außenwelt mit der lebendigen, aber vorübergehenden Thätigkeit der Perſonen, erzeugt eine von den Individuen ſelber unabhängige äußere Dauer und den Charakter von maſſiver Objektivität dieſer Syſteme. Und ſo geſtaltet ſich jedes derſelben als eine auf einem Beſtandtheil der Natur der Perſonen beruhende, von ihm aus mannichfach ent- wickelte Thätigkeitsweiſe, welche im Ganzen der Geſellſchaft einem Zweck derſelben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt hergeſtellten dauernden oder im Zuſammenhang mit der Thätigkeit ſich erneuenden Mitteln ausgeſtattet iſt, welche dem Zweck dieſer Thätigkeit dienen. Das einzelne Individuum iſt ein Kreuzungspunkt einer Mehr- heit von Syſtemen, welche ſich im Verlauf der fortſchreitenden Kultur immer feiner ſpecialiſiren. Ja derſelbe Lebensakt eines Individuums kann dieſe Vielſeitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter ein Werk abfaßt, kann dieſer Vorgang ein Glied in der Verbin-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/86>, abgerufen am 24.11.2024.