Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_407.001
Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, pdi_407.002
der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, pdi_407.003
wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' pdi_407.004
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte pdi_407.005
geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune pdi_407.006
spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin: pdi_407.007
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen pdi_407.008
Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist pdi_407.009
jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der pdi_407.010
Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend pdi_407.011
einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich pdi_407.012
eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, pdi_407.013
den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, pdi_407.014
bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, pdi_407.015
schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen pdi_407.016
an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies pdi_407.017
Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich pdi_407.018
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen pdi_407.019
hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in pdi_407.020
der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen pdi_407.021
Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. pdi_407.022
Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe pdi_407.023
auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung pdi_407.024
verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun pdi_407.025
geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu pdi_407.026
muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich pdi_407.027
suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten pdi_407.028
ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir pdi_407.029
unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen pdi_407.030
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der pdi_407.031
Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso pdi_407.032
die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen pdi_407.033
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und pdi_407.034
mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct pdi_407.035
angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen pdi_407.036
und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr

pdi_407.001
Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, pdi_407.002
der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, pdi_407.003
wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' pdi_407.004
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte pdi_407.005
geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune pdi_407.006
spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin: pdi_407.007
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen pdi_407.008
Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist pdi_407.009
jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der pdi_407.010
Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend pdi_407.011
einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich pdi_407.012
eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, pdi_407.013
den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, pdi_407.014
bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, pdi_407.015
schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen pdi_407.016
an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies pdi_407.017
Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich pdi_407.018
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen pdi_407.019
hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in pdi_407.020
der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen pdi_407.021
Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. pdi_407.022
Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe pdi_407.023
auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung pdi_407.024
verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun pdi_407.025
geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu pdi_407.026
muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich pdi_407.027
suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten pdi_407.028
ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir pdi_407.029
unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen pdi_407.030
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der pdi_407.031
Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso pdi_407.032
die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen pdi_407.033
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und pdi_407.034
mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct pdi_407.035
angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen pdi_407.036
und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="407"/><lb n="pdi_407.001"/>
Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, <lb n="pdi_407.002"/>
der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, <lb n="pdi_407.003"/>
wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' <lb n="pdi_407.004"/>
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte <lb n="pdi_407.005"/>
geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune <lb n="pdi_407.006"/>
spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin: <lb n="pdi_407.007"/>
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen <lb n="pdi_407.008"/>
Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist <lb n="pdi_407.009"/>
jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der <lb n="pdi_407.010"/>
Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend <lb n="pdi_407.011"/>
einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich <lb n="pdi_407.012"/>
eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, <lb n="pdi_407.013"/>
den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, <lb n="pdi_407.014"/>
bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, <lb n="pdi_407.015"/>
schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen <lb n="pdi_407.016"/>
an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies <lb n="pdi_407.017"/>
Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich <lb n="pdi_407.018"/>
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen <lb n="pdi_407.019"/>
hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in <lb n="pdi_407.020"/>
der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen <lb n="pdi_407.021"/>
Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. <lb n="pdi_407.022"/>
Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe <lb n="pdi_407.023"/>
auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung <lb n="pdi_407.024"/>
verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun <lb n="pdi_407.025"/>
geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu <lb n="pdi_407.026"/>
muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich <lb n="pdi_407.027"/>
suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten <lb n="pdi_407.028"/>
ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir <lb n="pdi_407.029"/>
unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen <lb n="pdi_407.030"/>
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der <lb n="pdi_407.031"/>
Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso <lb n="pdi_407.032"/>
die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen <lb n="pdi_407.033"/>
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und <lb n="pdi_407.034"/>
mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct <lb n="pdi_407.035"/>
angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen <lb n="pdi_407.036"/>
und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[407/0109] pdi_407.001 Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, pdi_407.002 der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch, pdi_407.003 wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz' pdi_407.004 ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte pdi_407.005 geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune pdi_407.006 spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin: pdi_407.007 bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen pdi_407.008 Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist pdi_407.009 jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der pdi_407.010 Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend pdi_407.011 einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich pdi_407.012 eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, pdi_407.013 den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, pdi_407.014 bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, pdi_407.015 schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen pdi_407.016 an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies pdi_407.017 Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich pdi_407.018 verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen pdi_407.019 hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in pdi_407.020 der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen pdi_407.021 Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich. pdi_407.022 Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe pdi_407.023 auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung pdi_407.024 verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun pdi_407.025 geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu pdi_407.026 muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich pdi_407.027 suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten pdi_407.028 ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir pdi_407.029 unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen pdi_407.030 war; dann such' ich ebenso die Gelenke der pdi_407.031 Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso pdi_407.032 die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen pdi_407.033 Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und pdi_407.034 mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct pdi_407.035 angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen pdi_407.036 und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/109
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/109>, abgerufen am 27.11.2024.