Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_409.001 pdi_409.030 Das Typische in der Dichtung. pdi_409.031 Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre pdi_409.032 pdi_409.001 pdi_409.030 Das Typische in der Dichtung. pdi_409.031 Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre pdi_409.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0111" n="409"/><lb n="pdi_409.001"/> Wechsel unterworfen von Tag zu Tag. Wochenlang, monatelang, <lb n="pdi_409.002"/> wenn ich mich recht erinnere, von Jahr zu Jahr, pflegte ich <lb n="pdi_409.003"/> dasselbe Märchen auszuspinnen, indem ich mich an gewisse Gesetze, <lb n="pdi_409.004"/> gewisse Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Einheiten <lb n="pdi_409.005"/> band. Niemals ward etwas Unmögliches eingeführt, noch irgend <lb n="pdi_409.006"/> etwas, das den äusseren Umständen nach ganz unwahrscheinlich <lb n="pdi_409.007"/> schien. Natürlich war ich mein eigener Held. Das versteht <lb n="pdi_409.008"/> sich von selbst beim Bauen von Luftschlössern. Aber ich wurde <lb n="pdi_409.009"/> nie ein König, ein Herzog, noch weniger konnte ich ein Antinous <lb n="pdi_409.010"/> oder sechs Fuss hoch sein, da meine Grösse und persönliche <lb n="pdi_409.011"/> Erscheinung feststanden. Ich war niemals ein Gelehrter, <lb n="pdi_409.012"/> nicht einmal ein Philosoph. Aber ich war ein gewandter Bursche, <lb n="pdi_409.013"/> und schöne junge Frauen pflegten verliebt in mich zu sein. Ich <lb n="pdi_409.014"/> strebte, gütigen Herzens, freigebig zu sein, vornehmer Gesinnung, <lb n="pdi_409.015"/> geringe Dinge verachtend. Alles zusammen war ich ein viel <lb n="pdi_409.016"/> besserer Geselle, als ich je erreicht habe. Dies war sechs oder <lb n="pdi_409.017"/> sieben Jahre lang die Beschäftigung meines Lebens, ehe ich in <lb n="pdi_409.018"/> den Postdienst trat, und wurde durchaus nicht aufgegeben, als <lb n="pdi_409.019"/> ich meinen Beruf begann. Schwerlich, denke ich, kann es eine <lb n="pdi_409.020"/> gefährlichere innere Gewohnheit geben; aber ich habe oft gezweifelt, <lb n="pdi_409.021"/> ob, wäre es meine Gewohnheit nicht gewesen, ich je <lb n="pdi_409.022"/> eine Novelle geschrieben hätte. Ich lernte auf diese Weise, ein <lb n="pdi_409.023"/> Interesse für eine erdichtete Geschichte aufrecht zu erhalten, <lb n="pdi_409.024"/> über einem von meiner Einbildungskraft geschaffenen Werke zu <lb n="pdi_409.025"/> brüten und in einer Welt zu leben, ganz und gar ausserhalb <lb n="pdi_409.026"/> der Welt meines eigenen materiellen Lebens. In späteren Jahren <lb n="pdi_409.027"/> habe ich dasselbe gethan mit dem Unterschied, dass ich den <lb n="pdi_409.028"/> Helden meiner früheren Träume abdankte und im Stande war, <lb n="pdi_409.029"/> meine eigene Identität aus dem Spiel zu lassen.“</p> </div> <div n="1"> <lb n="pdi_409.030"/> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Das Typische in der Dichtung.</hi> </hi> </head> <lb n="pdi_409.031"/> <p> Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre <lb n="pdi_409.032"/> der Poesie hinzugefügt werden. Bilder und ihre <lb n="pdi_409.033"/> Verbindungen werden von den Gefühlen aus transformirt; aber <lb n="pdi_409.034"/> nicht in einem leeren Raume, sondern inmitten des Getriebes <lb n="pdi_409.035"/> von all den psychischen Processen, welche beständig an unserem </p> </div> </body> </text> </TEI> [409/0111]
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Wechsel unterworfen von Tag zu Tag. Wochenlang, monatelang, pdi_409.002
wenn ich mich recht erinnere, von Jahr zu Jahr, pflegte ich pdi_409.003
dasselbe Märchen auszuspinnen, indem ich mich an gewisse Gesetze, pdi_409.004
gewisse Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Einheiten pdi_409.005
band. Niemals ward etwas Unmögliches eingeführt, noch irgend pdi_409.006
etwas, das den äusseren Umständen nach ganz unwahrscheinlich pdi_409.007
schien. Natürlich war ich mein eigener Held. Das versteht pdi_409.008
sich von selbst beim Bauen von Luftschlössern. Aber ich wurde pdi_409.009
nie ein König, ein Herzog, noch weniger konnte ich ein Antinous pdi_409.010
oder sechs Fuss hoch sein, da meine Grösse und persönliche pdi_409.011
Erscheinung feststanden. Ich war niemals ein Gelehrter, pdi_409.012
nicht einmal ein Philosoph. Aber ich war ein gewandter Bursche, pdi_409.013
und schöne junge Frauen pflegten verliebt in mich zu sein. Ich pdi_409.014
strebte, gütigen Herzens, freigebig zu sein, vornehmer Gesinnung, pdi_409.015
geringe Dinge verachtend. Alles zusammen war ich ein viel pdi_409.016
besserer Geselle, als ich je erreicht habe. Dies war sechs oder pdi_409.017
sieben Jahre lang die Beschäftigung meines Lebens, ehe ich in pdi_409.018
den Postdienst trat, und wurde durchaus nicht aufgegeben, als pdi_409.019
ich meinen Beruf begann. Schwerlich, denke ich, kann es eine pdi_409.020
gefährlichere innere Gewohnheit geben; aber ich habe oft gezweifelt, pdi_409.021
ob, wäre es meine Gewohnheit nicht gewesen, ich je pdi_409.022
eine Novelle geschrieben hätte. Ich lernte auf diese Weise, ein pdi_409.023
Interesse für eine erdichtete Geschichte aufrecht zu erhalten, pdi_409.024
über einem von meiner Einbildungskraft geschaffenen Werke zu pdi_409.025
brüten und in einer Welt zu leben, ganz und gar ausserhalb pdi_409.026
der Welt meines eigenen materiellen Lebens. In späteren Jahren pdi_409.027
habe ich dasselbe gethan mit dem Unterschied, dass ich den pdi_409.028
Helden meiner früheren Träume abdankte und im Stande war, pdi_409.029
meine eigene Identität aus dem Spiel zu lassen.“
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Das Typische in der Dichtung. pdi_409.031
Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre pdi_409.032
der Poesie hinzugefügt werden. Bilder und ihre pdi_409.033
Verbindungen werden von den Gefühlen aus transformirt; aber pdi_409.034
nicht in einem leeren Raume, sondern inmitten des Getriebes pdi_409.035
von all den psychischen Processen, welche beständig an unserem
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