Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_439.001 In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann pdi_439.027 Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen pdi_439.033 pdi_439.001 In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann pdi_439.027 Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen pdi_439.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0141" n="439"/><lb n="pdi_439.001"/> Leidenschaft, tragischer Schuld und Untergang, sowie die Nebenordnung <lb n="pdi_439.002"/> verwandter Handlungen, und schuf so die Technik der <lb n="pdi_439.003"/> classischen englischen Tragödie. Aber dieselbe Stärke seiner <lb n="pdi_439.004"/> moralischen Gefühle hatte früh Erfahrungen und Urtheile über <lb n="pdi_439.005"/> den Charakter der Welt, wie sie in seinen Sonetten vorliegen, <lb n="pdi_439.006"/> zur Folge. Als er nun die Hamletsage kennen lernte, fand er <lb n="pdi_439.007"/> hier das furchtbarste Symbol für die moralische Gebrechlichkeit <lb n="pdi_439.008"/> der Welt. Ein zartbesaitetes sittliches Gemüth muss die eigene <lb n="pdi_439.009"/> Mutter schuldig finden, ja verachten, und den Vater an ihrem <lb n="pdi_439.010"/> Gemahl, dem König, rächen. Er verknüpfte nun hiermit <lb n="pdi_439.011"/> Bilder der ihm nur allzu bekannten höfischen Corruption. Hatte <lb n="pdi_439.012"/> das Problem des Wahnsinns ihn immer beschäftigt, so wob er <lb n="pdi_439.013"/> dann in die Fabel ein weiteres Symbol menschlicher Gebrechlichkeit; <lb n="pdi_439.014"/> er liess die schreckliche Verwandtschaft zwischen den <lb n="pdi_439.015"/> sinnlichen Kräften einer reinen Mädchenseele und den Bildern, <lb n="pdi_439.016"/> die im Wahnsinn über sie hereinbrechen, in Ophelien gewahren. <lb n="pdi_439.017"/> Die auf dieser Grundlage in Spiel und Gegenspiel entworfene <lb n="pdi_439.018"/> Handlung gestattet eine verschiedene Interpretation. Aber soviel <lb n="pdi_439.019"/> sieht man doch deutlich, wie hier im Erlebniss des Dichters <lb n="pdi_439.020"/> und in den erschütternden Symbolen für dasselbe ein Kern des <lb n="pdi_439.021"/> Dramas liegt, der in keinem Satze ausgesprochen werden kann. <lb n="pdi_439.022"/> In der Seele des erschütterten Zuschauers geht dann Alles <lb n="pdi_439.023"/> zu einer nur bildmässigen und gefühlten Einheit der tiefsten <lb n="pdi_439.024"/> Lebenserfahrungen zusammen, und das ist eben, was Poesie ihm <lb n="pdi_439.025"/> sagen will.</p> <lb n="pdi_439.026"/> <p> In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann <lb n="pdi_439.027"/> <hi rendition="#g">Grenzen der dichterischen Einbildungskraft.</hi> Die <lb n="pdi_439.028"/> Abhängigkeit der epischen Poesie von Mythos und Sage während <lb n="pdi_439.029"/> der heroischen Zeit der Völker ist von der Philologie im Einzelnen <lb n="pdi_439.030"/> festgestellt worden. Aber auch von der Tragödie kann <lb n="pdi_439.031"/> der Satz aufgestellt werden:</p> <lb n="pdi_439.032"/> <p> <hi rendition="#et"> Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen <lb n="pdi_439.033"/> Schaffen eine äussere Thatsächlichkeit, Bericht, <lb n="pdi_439.034"/> Novelle etc. wie unerbittliche Wirklichkeit gegenübertritt. <lb n="pdi_439.035"/> Nun strebt die Einbildung, diesem Wirklichen <lb n="pdi_439.036"/> Einheit, Innerlichkeit und Bedeutung zu geben. In dem </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [439/0141]
pdi_439.001
Leidenschaft, tragischer Schuld und Untergang, sowie die Nebenordnung pdi_439.002
verwandter Handlungen, und schuf so die Technik der pdi_439.003
classischen englischen Tragödie. Aber dieselbe Stärke seiner pdi_439.004
moralischen Gefühle hatte früh Erfahrungen und Urtheile über pdi_439.005
den Charakter der Welt, wie sie in seinen Sonetten vorliegen, pdi_439.006
zur Folge. Als er nun die Hamletsage kennen lernte, fand er pdi_439.007
hier das furchtbarste Symbol für die moralische Gebrechlichkeit pdi_439.008
der Welt. Ein zartbesaitetes sittliches Gemüth muss die eigene pdi_439.009
Mutter schuldig finden, ja verachten, und den Vater an ihrem pdi_439.010
Gemahl, dem König, rächen. Er verknüpfte nun hiermit pdi_439.011
Bilder der ihm nur allzu bekannten höfischen Corruption. Hatte pdi_439.012
das Problem des Wahnsinns ihn immer beschäftigt, so wob er pdi_439.013
dann in die Fabel ein weiteres Symbol menschlicher Gebrechlichkeit; pdi_439.014
er liess die schreckliche Verwandtschaft zwischen den pdi_439.015
sinnlichen Kräften einer reinen Mädchenseele und den Bildern, pdi_439.016
die im Wahnsinn über sie hereinbrechen, in Ophelien gewahren. pdi_439.017
Die auf dieser Grundlage in Spiel und Gegenspiel entworfene pdi_439.018
Handlung gestattet eine verschiedene Interpretation. Aber soviel pdi_439.019
sieht man doch deutlich, wie hier im Erlebniss des Dichters pdi_439.020
und in den erschütternden Symbolen für dasselbe ein Kern des pdi_439.021
Dramas liegt, der in keinem Satze ausgesprochen werden kann. pdi_439.022
In der Seele des erschütterten Zuschauers geht dann Alles pdi_439.023
zu einer nur bildmässigen und gefühlten Einheit der tiefsten pdi_439.024
Lebenserfahrungen zusammen, und das ist eben, was Poesie ihm pdi_439.025
sagen will.
pdi_439.026
In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann pdi_439.027
Grenzen der dichterischen Einbildungskraft. Die pdi_439.028
Abhängigkeit der epischen Poesie von Mythos und Sage während pdi_439.029
der heroischen Zeit der Völker ist von der Philologie im Einzelnen pdi_439.030
festgestellt worden. Aber auch von der Tragödie kann pdi_439.031
der Satz aufgestellt werden:
pdi_439.032
Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen pdi_439.033
Schaffen eine äussere Thatsächlichkeit, Bericht, pdi_439.034
Novelle etc. wie unerbittliche Wirklichkeit gegenübertritt. pdi_439.035
Nun strebt die Einbildung, diesem Wirklichen pdi_439.036
Einheit, Innerlichkeit und Bedeutung zu geben. In dem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |