Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_474.001
Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden pdi_474.002
viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht pdi_474.003
zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt pdi_474.004
werden. "Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne pdi_474.005
dadurch das Ganze derselben zu verletzen." Zwischen der pdi_474.006
englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche, pdi_474.007
die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca pdi_474.008
und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt pdi_474.009
und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in pdi_474.010
Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet.

pdi_474.011

Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und pdi_474.012
die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt. pdi_474.013
Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der pdi_474.014
Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln.

pdi_474.015

5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen pdi_474.016
Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des pdi_474.017
Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf, pdi_474.018
welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren pdi_474.019
feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten pdi_474.020
entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus pdi_474.021
einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, pdi_474.022
Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss pdi_474.023
der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden pdi_474.024
kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten pdi_474.025
der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit pdi_474.026
die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen pdi_474.027
drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben pdi_474.028
nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden pdi_474.029
Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse pdi_474.030
herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit pdi_474.031
zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre pdi_474.032
Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch pdi_474.033
anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert. pdi_474.034
Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten pdi_474.035
Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik pdi_474.036
zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb

pdi_474.001
Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden pdi_474.002
viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht pdi_474.003
zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt pdi_474.004
werden. „Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne pdi_474.005
dadurch das Ganze derselben zu verletzen.“ Zwischen der pdi_474.006
englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche, pdi_474.007
die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca pdi_474.008
und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt pdi_474.009
und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in pdi_474.010
Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet.

pdi_474.011

  Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und pdi_474.012
die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt. pdi_474.013
Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der pdi_474.014
Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln.

pdi_474.015

  5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen pdi_474.016
Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des pdi_474.017
Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf, pdi_474.018
welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren pdi_474.019
feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten pdi_474.020
entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus pdi_474.021
einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, pdi_474.022
Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss pdi_474.023
der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden pdi_474.024
kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten pdi_474.025
der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit pdi_474.026
die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen pdi_474.027
drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben pdi_474.028
nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden pdi_474.029
Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse pdi_474.030
herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit pdi_474.031
zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre pdi_474.032
Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch pdi_474.033
anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert. pdi_474.034
Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten pdi_474.035
Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik pdi_474.036
zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0176" n="474"/><lb n="pdi_474.001"/>
Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden <lb n="pdi_474.002"/>
viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht <lb n="pdi_474.003"/>
zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt <lb n="pdi_474.004"/>
werden. &#x201E;Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne <lb n="pdi_474.005"/>
dadurch das Ganze derselben zu verletzen.&#x201C; Zwischen der <lb n="pdi_474.006"/>
englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche, <lb n="pdi_474.007"/>
die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca <lb n="pdi_474.008"/>
und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt <lb n="pdi_474.009"/>
und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in <lb n="pdi_474.010"/>
Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet.</p>
          <lb n="pdi_474.011"/>
          <p> <hi rendition="#et">  Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und <lb n="pdi_474.012"/>
die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt. <lb n="pdi_474.013"/>
Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der <lb n="pdi_474.014"/>
Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln.</hi> </p>
          <lb n="pdi_474.015"/>
          <p>  5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen <lb n="pdi_474.016"/>
Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des <lb n="pdi_474.017"/>
Geschmacks treten <hi rendition="#g">feste gesetzliche Verhältnisse</hi> auf, <lb n="pdi_474.018"/>
welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren <lb n="pdi_474.019"/>
feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten <lb n="pdi_474.020"/>
entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus <lb n="pdi_474.021"/>
einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, <lb n="pdi_474.022"/>
Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss <lb n="pdi_474.023"/>
der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden <lb n="pdi_474.024"/>
kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten <lb n="pdi_474.025"/>
der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit <lb n="pdi_474.026"/>
die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen <lb n="pdi_474.027"/>
drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben <lb n="pdi_474.028"/>
nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden <lb n="pdi_474.029"/>
Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse <lb n="pdi_474.030"/>
herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit <lb n="pdi_474.031"/>
zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre <lb n="pdi_474.032"/>
Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch <lb n="pdi_474.033"/>
anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert. <lb n="pdi_474.034"/>
Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten <lb n="pdi_474.035"/>
Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik <lb n="pdi_474.036"/>
zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[474/0176] pdi_474.001 Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden pdi_474.002 viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht pdi_474.003 zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt pdi_474.004 werden. „Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne pdi_474.005 dadurch das Ganze derselben zu verletzen.“ Zwischen der pdi_474.006 englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche, pdi_474.007 die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca pdi_474.008 und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt pdi_474.009 und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in pdi_474.010 Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet. pdi_474.011   Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und pdi_474.012 die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt. pdi_474.013 Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der pdi_474.014 Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln. pdi_474.015   5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen pdi_474.016 Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des pdi_474.017 Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf, pdi_474.018 welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren pdi_474.019 feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten pdi_474.020 entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus pdi_474.021 einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit, pdi_474.022 Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss pdi_474.023 der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden pdi_474.024 kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten pdi_474.025 der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit pdi_474.026 die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen pdi_474.027 drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben pdi_474.028 nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden pdi_474.029 Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse pdi_474.030 herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit pdi_474.031 zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre pdi_474.032 Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch pdi_474.033 anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert. pdi_474.034 Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten pdi_474.035 Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik pdi_474.036 zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/176
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/176>, abgerufen am 29.11.2024.