Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_317.001 Goethe schrieb am 28. April 1797: "ich habe die Dichtkunst pdi_317.034 pdi_317.001 Goethe schrieb am 28. April 1797: „ich habe die Dichtkunst pdi_317.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0019" n="317"/><lb n="pdi_317.001"/> Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der <lb n="pdi_317.002"/> Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des <lb n="pdi_317.003"/> Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen <lb n="pdi_317.004"/> Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik <lb n="pdi_317.005"/> damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem <lb n="pdi_317.006"/> Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu <lb n="pdi_317.007"/> bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille <lb n="pdi_317.008"/> und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition <lb n="pdi_317.009"/> der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen <lb n="pdi_317.010"/> Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer <lb n="pdi_317.011"/> man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare'schen <lb n="pdi_317.012"/> Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man <lb n="pdi_317.013"/> vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das <lb n="pdi_317.014"/> ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar <lb n="pdi_317.015"/> voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser <lb n="pdi_317.016"/> Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine <lb n="pdi_317.017"/> Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie <lb n="pdi_317.018"/> stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen <lb n="pdi_317.019"/> Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen <lb n="pdi_317.020"/> Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte <lb n="pdi_317.021"/> die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer <lb n="pdi_317.022"/> Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon <lb n="pdi_317.023"/> und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut, <lb n="pdi_317.024"/> im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing'scher <lb n="pdi_317.025"/> Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber <lb n="pdi_317.026"/> war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie <lb n="pdi_317.027"/> herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger <lb n="pdi_317.028"/> Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden, <lb n="pdi_317.029"/> in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen <lb n="pdi_317.030"/> über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren <lb n="pdi_317.031"/> sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder <lb n="pdi_317.032"/> verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.</p> <lb n="pdi_317.033"/> <p> Goethe schrieb am 28. April 1797: „ich habe die Dichtkunst <lb n="pdi_317.034"/> des Aristoteles wieder mit dem grössten Vergnügen durchgelesen, <lb n="pdi_317.035"/> es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten <lb n="pdi_317.036"/> Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [317/0019]
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Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der pdi_317.002
Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des pdi_317.003
Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen pdi_317.004
Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik pdi_317.005
damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem pdi_317.006
Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu pdi_317.007
bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille pdi_317.008
und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition pdi_317.009
der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen pdi_317.010
Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer pdi_317.011
man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare'schen pdi_317.012
Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man pdi_317.013
vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das pdi_317.014
ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar pdi_317.015
voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser pdi_317.016
Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine pdi_317.017
Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie pdi_317.018
stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen pdi_317.019
Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen pdi_317.020
Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte pdi_317.021
die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer pdi_317.022
Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon pdi_317.023
und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut, pdi_317.024
im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing'scher pdi_317.025
Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber pdi_317.026
war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie pdi_317.027
herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger pdi_317.028
Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden, pdi_317.029
in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen pdi_317.030
über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren pdi_317.031
sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder pdi_317.032
verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.
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Goethe schrieb am 28. April 1797: „ich habe die Dichtkunst pdi_317.034
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es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten pdi_317.036
Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss
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