Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_337.001 Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden pdi_337.009 pdi_337.001 Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden pdi_337.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0039" n="337"/><lb n="pdi_337.001"/> vereinigen. Sie heben sich auf dem Grunde desjenigen ab, was <lb n="pdi_337.002"/> in dem Poeten ganz ebenso wie in dem Philosophen, Naturforscher <lb n="pdi_337.003"/> oder Politiker auftritt. Es wäre überflüssig, hiervon <lb n="pdi_337.004"/> zu sprechen, wenn nicht sowohl die gräcisirende als die romantische <lb n="pdi_337.005"/> Richtung diese Thatsache verkannt und den Dichter in <lb n="pdi_337.006"/> die Wolken idealer Formen oder einer vom Wirklichen abgetrennten <lb n="pdi_337.007"/> Scheinwelt versetzt hätte.</p> <lb n="pdi_337.008"/> <p> Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden <lb n="pdi_337.009"/> Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt <lb n="pdi_337.010"/> werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung <lb n="pdi_337.011"/> von solchen mit einem Erlebniss und seiner Darstellung <lb n="pdi_337.012"/> in Verhältniss steht, kann es ein Bestandtheil der Dichtung <lb n="pdi_337.013"/> sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebniss, <lb n="pdi_337.014"/> lebendige Erfahrung, seelische Bestandtheile aller Art, die mit <lb n="pdi_337.015"/> ihr in Beziehung stehen. Alle Bilder der Aussenwelt können <lb n="pdi_337.016"/> durch ein solches Verhältniss mittelbar Material für das Schaffen <lb n="pdi_337.017"/> des Poeten sein. Jede Operation des Verstandes, welche die <lb n="pdi_337.018"/> Erfahrungen verallgemeinert, ordnet und ihre Benutzbarkeit verstärkt, <lb n="pdi_337.019"/> dient so ebenfalls der Arbeit des Dichters. Dieser Erfahrungskreis, <lb n="pdi_337.020"/> in dem der Dichter wirkt, ist nicht von dem <lb n="pdi_337.021"/> unterschieden, aus dem der Philosoph oder der Politiker schöpft. <lb n="pdi_337.022"/> Die Jugendbriefe Friedrichs des Grossen wie die eines heutigen <lb n="pdi_337.023"/> Staatsmanns sind voll von Elementen, welche ebenso in der <lb n="pdi_337.024"/> Seele eines grossen Dichters gefunden werden, und viele Gedanken <lb n="pdi_337.025"/> Schillers könnten die eines politischen Redners sein. Eine <lb n="pdi_337.026"/> mächtige Lebendigkeit der Seele, Energie der Erfahrungen <lb n="pdi_337.027"/> vom Herzen und der Welt, Kraft der Verallgemeinerung und <lb n="pdi_337.028"/> des Beweises bilden den gemeinsamen mütterlichen Boden geistiger <lb n="pdi_337.029"/> Leistungen von sehr verschiedener Art, darunter auch <lb n="pdi_337.030"/> derer der Poeten. Unter dem Wenigen, was wir von Shakespeares <lb n="pdi_337.031"/> Lectüre aus seinen Werken schliessen können, ist, dass <lb n="pdi_337.032"/> er Montaigne geliebt haben muss. Dieses urwüchsige Verhältniss <lb n="pdi_337.033"/> eines elementaren mächtigen Intellects zu Lebenserfahrung und <lb n="pdi_337.034"/> Verallgemeinerung derselben muss bei jedem grossen Dichter <lb n="pdi_337.035"/> bestanden haben. Goethe erklärt: „Darauf kommt Alles an: <lb n="pdi_337.036"/> man muss etwas sein, um etwas zu machen.“ „Der persönliche </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [337/0039]
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vereinigen. Sie heben sich auf dem Grunde desjenigen ab, was pdi_337.002
in dem Poeten ganz ebenso wie in dem Philosophen, Naturforscher pdi_337.003
oder Politiker auftritt. Es wäre überflüssig, hiervon pdi_337.004
zu sprechen, wenn nicht sowohl die gräcisirende als die romantische pdi_337.005
Richtung diese Thatsache verkannt und den Dichter in pdi_337.006
die Wolken idealer Formen oder einer vom Wirklichen abgetrennten pdi_337.007
Scheinwelt versetzt hätte.
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Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden pdi_337.009
Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt pdi_337.010
werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung pdi_337.011
von solchen mit einem Erlebniss und seiner Darstellung pdi_337.012
in Verhältniss steht, kann es ein Bestandtheil der Dichtung pdi_337.013
sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebniss, pdi_337.014
lebendige Erfahrung, seelische Bestandtheile aller Art, die mit pdi_337.015
ihr in Beziehung stehen. Alle Bilder der Aussenwelt können pdi_337.016
durch ein solches Verhältniss mittelbar Material für das Schaffen pdi_337.017
des Poeten sein. Jede Operation des Verstandes, welche die pdi_337.018
Erfahrungen verallgemeinert, ordnet und ihre Benutzbarkeit verstärkt, pdi_337.019
dient so ebenfalls der Arbeit des Dichters. Dieser Erfahrungskreis, pdi_337.020
in dem der Dichter wirkt, ist nicht von dem pdi_337.021
unterschieden, aus dem der Philosoph oder der Politiker schöpft. pdi_337.022
Die Jugendbriefe Friedrichs des Grossen wie die eines heutigen pdi_337.023
Staatsmanns sind voll von Elementen, welche ebenso in der pdi_337.024
Seele eines grossen Dichters gefunden werden, und viele Gedanken pdi_337.025
Schillers könnten die eines politischen Redners sein. Eine pdi_337.026
mächtige Lebendigkeit der Seele, Energie der Erfahrungen pdi_337.027
vom Herzen und der Welt, Kraft der Verallgemeinerung und pdi_337.028
des Beweises bilden den gemeinsamen mütterlichen Boden geistiger pdi_337.029
Leistungen von sehr verschiedener Art, darunter auch pdi_337.030
derer der Poeten. Unter dem Wenigen, was wir von Shakespeares pdi_337.031
Lectüre aus seinen Werken schliessen können, ist, dass pdi_337.032
er Montaigne geliebt haben muss. Dieses urwüchsige Verhältniss pdi_337.033
eines elementaren mächtigen Intellects zu Lebenserfahrung und pdi_337.034
Verallgemeinerung derselben muss bei jedem grossen Dichter pdi_337.035
bestanden haben. Goethe erklärt: „Darauf kommt Alles an: pdi_337.036
man muss etwas sein, um etwas zu machen.“ „Der persönliche
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