Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_351.001 pdi_351.028 Versuch einer psychologischen Erklärung des pdi_351.029 dichterischen Schaffens. pdi_351.030 Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen pdi_351.031 pdi_351.001 pdi_351.028 Versuch einer psychologischen Erklärung des pdi_351.029 dichterischen Schaffens. pdi_351.030 Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen pdi_351.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0053" n="351"/><lb n="pdi_351.001"/> Genies berührt sich, wie man sieht, vielfach mit Byron wie <lb n="pdi_351.002"/> Alfieri. Dann hat Richard Wagner, im Anschluss an Schopenhauer, <lb n="pdi_351.003"/> den „Wahn“ glorificirt und so alle höchsten Leistungen <lb n="pdi_351.004"/> und Opfer in die Nachbarschaft des Pathologischen gebracht. <lb n="pdi_351.005"/> Die französische Psychiatrie hat aber diese Verwandtschaft von <lb n="pdi_351.006"/> Genie und Wahnsinn zum Gegenstande einer ganzen Literatur <lb n="pdi_351.007"/> von psychiatrischen Phantasien gemacht. Ich übergehe, was <lb n="pdi_351.008"/> über die Aehnlichkeit des Genies mit dem Wahnsinn überhaupt <lb n="pdi_351.009"/> gesagt werden kann, und hebe nur hervor, worin das Schaffen <lb n="pdi_351.010"/> des Dichters sich mit den Wahnideen, den Träumen und den <lb n="pdi_351.011"/> Phantasiebildern in anderen abnormen Zuständen berührt. In <lb n="pdi_351.012"/> allen diesen Zuständen entstehen Bilder, welche die Erfahrung <lb n="pdi_351.013"/> überschreiten. Das ist das Merkmal des grossen Dichters, <lb n="pdi_351.014"/> dass seine constructive Phantasie aus Erfahrungselementen, getragen <lb n="pdi_351.015"/> von den Analogien der Erfahrung, einen Typus von <lb n="pdi_351.016"/> Person oder Handlung hervorbringt, der über die Erfahrung <lb n="pdi_351.017"/> hinausgeht und durch den wir diese doch besser begreifen. Und <lb n="pdi_351.018"/> zwar ist auch darin der Dichter dem Träumenden oder dem <lb n="pdi_351.019"/> Irren verwandt, dass er seine Situationen, Gestalten und Vorgänge <lb n="pdi_351.020"/> in einer Sinnfälligkeit erblickt, welche sie der Hallucination <lb n="pdi_351.021"/> annähert. Er verkehrt mit den Gestalten, die in seiner <lb n="pdi_351.022"/> Einbildungskraft allein Heimathrecht besitzen, wie mit wirklichen <lb n="pdi_351.023"/> Personen, liebt sie, fürchtet für sie. Eine weitere Analogie <lb n="pdi_351.024"/> liegt in der Fähigkeit, das eigene Ich in das des Helden <lb n="pdi_351.025"/> umzuwandeln, aus ihm heraus zu reden, ähnlich wie der Schauspieler <lb n="pdi_351.026"/> thut. In diesem Allem verbirgt sich eins der interessantesten <lb n="pdi_351.027"/> Probleme der Psychologie.</p> </div> </div> <div n="1"> <lb n="pdi_351.028"/> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Versuch einer psychologischen Erklärung des <lb n="pdi_351.029"/> dichterischen Schaffens.</hi> </hi> </head> <div n="2"> <lb n="pdi_351.030"/> <p> Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen <lb n="pdi_351.031"/> Grössen ausgegangen. Sie lässt deren Veränderungen von aussen <lb n="pdi_351.032"/> durch Association, Verschmelzung, Apperception eintreten. Ich <lb n="pdi_351.033"/> behaupte nun, dass das Leben der Bilder in dem Träumenden, <lb n="pdi_351.034"/> dem Irren, dem Künstler von dieser Psychologie nicht erklärt <lb n="pdi_351.035"/> werden kann. Denkt man sich durch eine Abstraction blosse </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [351/0053]
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Genies berührt sich, wie man sieht, vielfach mit Byron wie pdi_351.002
Alfieri. Dann hat Richard Wagner, im Anschluss an Schopenhauer, pdi_351.003
den „Wahn“ glorificirt und so alle höchsten Leistungen pdi_351.004
und Opfer in die Nachbarschaft des Pathologischen gebracht. pdi_351.005
Die französische Psychiatrie hat aber diese Verwandtschaft von pdi_351.006
Genie und Wahnsinn zum Gegenstande einer ganzen Literatur pdi_351.007
von psychiatrischen Phantasien gemacht. Ich übergehe, was pdi_351.008
über die Aehnlichkeit des Genies mit dem Wahnsinn überhaupt pdi_351.009
gesagt werden kann, und hebe nur hervor, worin das Schaffen pdi_351.010
des Dichters sich mit den Wahnideen, den Träumen und den pdi_351.011
Phantasiebildern in anderen abnormen Zuständen berührt. In pdi_351.012
allen diesen Zuständen entstehen Bilder, welche die Erfahrung pdi_351.013
überschreiten. Das ist das Merkmal des grossen Dichters, pdi_351.014
dass seine constructive Phantasie aus Erfahrungselementen, getragen pdi_351.015
von den Analogien der Erfahrung, einen Typus von pdi_351.016
Person oder Handlung hervorbringt, der über die Erfahrung pdi_351.017
hinausgeht und durch den wir diese doch besser begreifen. Und pdi_351.018
zwar ist auch darin der Dichter dem Träumenden oder dem pdi_351.019
Irren verwandt, dass er seine Situationen, Gestalten und Vorgänge pdi_351.020
in einer Sinnfälligkeit erblickt, welche sie der Hallucination pdi_351.021
annähert. Er verkehrt mit den Gestalten, die in seiner pdi_351.022
Einbildungskraft allein Heimathrecht besitzen, wie mit wirklichen pdi_351.023
Personen, liebt sie, fürchtet für sie. Eine weitere Analogie pdi_351.024
liegt in der Fähigkeit, das eigene Ich in das des Helden pdi_351.025
umzuwandeln, aus ihm heraus zu reden, ähnlich wie der Schauspieler pdi_351.026
thut. In diesem Allem verbirgt sich eins der interessantesten pdi_351.027
Probleme der Psychologie.
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Versuch einer psychologischen Erklärung des pdi_351.029
dichterischen Schaffens. pdi_351.030
Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen pdi_351.031
Grössen ausgegangen. Sie lässt deren Veränderungen von aussen pdi_351.032
durch Association, Verschmelzung, Apperception eintreten. Ich pdi_351.033
behaupte nun, dass das Leben der Bilder in dem Träumenden, pdi_351.034
dem Irren, dem Künstler von dieser Psychologie nicht erklärt pdi_351.035
werden kann. Denkt man sich durch eine Abstraction blosse
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